Jim Ratcliffe ist zwar ein Abenteurer, aber kein Träumer. Schließlich zählt der 1952 in Manchester geborene Chemie-Ingenieur nicht von ungefähr zu den reichsten Männern Großbritanniens. Ratcliffe ist ein gewiefter Manager, der vor 20 Jahren die Chemiesparte des Mineralölkonzerns BP übernommen und unter dem Namen Ineos durch geschickte Zukäufe und Kooperationen mit mittlerweile über 20.000 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von 60 Milliarden Dollar zu einem der größten Chemieunternehmen der Welt gemacht hat.
Jetzt rücken auch Pkw in seinen Fokus. Denn so sehr sein Herzblut an Autos wie dem Defender hängt, so generalstabsmäßig geht er beim Bau seines eigenen Geländewagens vor: Er hat die Firmensparte Ineos Automotive gegründet, hat den bislang von Köln aus für Engineering und Technologie zuständigen Anlagenbauer Dirk Heilmann zum Projektleiter bestimmt und ihm ein Budget von einer knappen Milliarde Euro gestellt. Damit hat Heilmann nicht nur Magna Steyr mit der Entwicklung des Modells beauftrag und in Wales ein Werk für 25.000 Autos im Jahr geplant, sondern auch BMW eine hohe fünfstellige Zahl an Sechszylinder-Dieseln und -Benziner bestellt, die den kantigen Allradler von Ende nächsten Jahres an in Fahrt bringen sollen.
„Die Initialzündung dafür war tatsächlich der Tag, an dem im Januar 2016 bei Land Rover der letzte Defender gebaut worden ist”, sagt Heilmann. Denn da habe Ratcliffe, der gerne den öffentlichkeitsscheuen Milliardär gibt und sich deshalb selbst zu dieser Herzensangelegenheit nicht äußern mag, erkannt, wie dünn die Luft für diese ganz spezielle Gattung von Geländewagen so langsam wird. An einem denkwürdigen Abend in einem ehrwürdigen Pub in London habe er seine ersten Gedanken dazu auf die Rückseite eines Bierdeckels skizziert – und trägt diesem Moment nicht zuletzt mit dem Namen des neuen Modells Rechnung. Denn Ratcliffes rustikaler Erstling für die Pampa wird genauso heißen wie der Pub, in dem seine Geburtsstunde geschlagen hat: Grenadier.
Neben all den vielen Lifestyle-Jüngern und Großstadtmüttern, die mit ihrem SUV nur zum Sport oder vor die Kita fahren, gibt es weltweit tatsächlich noch eine ganze Menge Kunden, für die ein Geländewagen kein Accessoire ist, sondern ein lebenswichtiges Nutzfahrzeug: Ohne Autos wie den Defender, den Toyota Land Cruiser, die Mercedes G-Klasse und natürlich den Lada Niva müssten viele Farmen in unwirtlichen Gegenden Afrikas oder Australiens dicht machen, Minen und Ölfelder in den Anden oder in Sibirien hätten ernsthafte logistische Probleme und zahlreiche Expeditionen müssten umsatteln. Von Katastrophenschützern und Militärs ganz zu schweigen. Und selbst wenn er im harten Einsatz eher von Pickups wie dem Ford F-150 ersetzt wird, gehört auch der Jeep Wrangler noch in diese Kategorie der Unverwüstlichen.
Bei Land Rover war man von der Idee des Briten trotzdem wenig begeistert. Natürlich freuen sie sich in Solihull über jeden Freund der Marke und über jeden Fan des Defender, der als »Land Rover Series 1« 1948 den Grundstein für den mittlerweile wahrscheinlich angesehensten Geländewagenhersteller der Welt gelegt hat. „Doch wenn einer einen Defender baut, dann ist das Land Rover“, sagen sie trotzig und liefern nach schier endloser Bedenkzeit dafür jetzt mit einer würdigen Neuauflage den unwiderlegbaren Beweis.
Im ersten Anlauf wollte es Ratcliffe mit dem Defender so machen, wie er es auch mit seinen vielen Firmenübernahmen gehandhabt hat: Er kauft alte Anlagen und Pläne und schafft es irgendwie, das Geschäft unter neuen Vorzeichen wieder anzukurbeln. Doch als der Ineos-Chef kurzerhand die Montagelinie und die Lizenz für den Defender übernehmen wollte, haben die Briten den Milliardär offenbar abblitzen lassen und ihm sehr deutlich die Rechtslage erklärt. Seitdem gehen Ratcliffe und sein Projektleiter Heilmann höflich auf Distanz zum Defender. Sie sprechen nicht mehr von einem Nachbau, sondern von einer Neuentwicklung, die allenfalls vom Land Rover und seinen Artgenossen inspiriert sei, weil sie die Gene eines klassischen, robusten und schnörkellosen Geländewagens habe.
Das Ergebnis ist ein Auto, das auf den ersten Blick aussieht wie eine Kreuzung aus G-Klasse und Defender, eckig, kantig, rustikal und ungeheuer praktisch. Nicht umsonst hängt das Ersatzrad von außen an der vertikal geteilten Heckklappe, nicht ohne Grund gibt’s eine Leiter aufs Dach und nicht von ungefähr läuft um die ganze Karosse eine Reling, an der man zum Beispiel Werkzeug oder Ausrüstungsgegenstände befestigen kann.
Jetzt müssen aber erst einmal Heilmann und sein Team noch etwas arbeiten. Denn auch wenn mittlerweile die ersten Prototypen fertig sind, trennen sie vom Serienstart noch 1,5 Millionen Testkilometer, eine noch zu errichtende Fabrik und der Aufbau einer Handels- und Service-Organisation. Vom Markenaufbau und der Steigerung des Bekanntheitsgrades ganz zu schweigen. Natürlich weiß auch der Anlagenbauer Heilmann, dass Entwicklung, Produktion und Vertrieb eines Autos mitsamt dem Aufbau einer Marke kein Kinderspiel sind. Doch wer eine komplexe Chemiefabrik aus dem Boden stampfen kann, der bekommt auch eine Fahrzeugfertigung zum Laufen, ist der Deutsche überzeugt. „Wir wären nicht einer der größten Industriekonzerne der Welt, wenn wir nicht wüssten, was wir uns zutrauen können.“
Fotos Ineos