Jahrzehntelang ist der 1.906 Meter hohe Mont Ventoux bei Avignon – denn von ihm ist hier die Rede – im Rennkalender der »Tour de France« fest vermerkt. »Berg der Leiden und Tragödien« oder »Killer-Berg“ wurde und wird er bei den Athleten genannt. Der britische Rad-Rennfahrer und Weltmeister Tom Simpson starb am 13. Juli 1967 hier kurz vor dem Gipfel an Erschöpfung und einer Überdosis erster nachgewiesener Dopingsubstanzen. Ein steinernes Denkmal erinnert daran und Simpsons beide Töchter Joanne und Jane besuchten und schmückten alljährlich die Granit-Stele. Tausende Radsportler erweisen ihm hier heute noch die Ehre, hinterlassen persönliche Erinnerungsstücke. Seit Jahrzehnten gilt der »Weiße Berg« nicht nur professionellen Rennfahrern, sondern auch engagierten Hobbyfahrern, Männern und Frauen, als Messlatte für Kraft und Ausdauer. Wobei der Name am ehesten mit »Berg der Winde« zu übersetzen ist, eben wegen der dort vorherrschenden Witterungsverhältnisse.
Es gehört zum Ehrgeiz der meisten Aufsteigenden, beide fast gleichlangen Aufstiegs- Seiten nacheinander, meist an zwei Tagen, zu bezwingen. Das nutzen etliche professionelle Rennteams und Service-Crews im Frühjahr und im Herbst, um vor Ort, vor allem in Bedoin, Zelte mit Rennmaschinen und allem Zubehör wie Ritzel-Bestückung, Bremsbelägen, Sicherheitsbekleidung, Lenkerband, Reifen und Felgen bis hin zu kompletten Rennrädern samt entsprechendem Technik-Service aufzubauen. Von der klassischen Rennmaschine mit Felgenbremsen, separaten Schalthebeln außen am Rahmen für die vordere und die hintere Schaltgruppe und klassisch-hartem Brooks-Ledersattel bis hin zu modernsten Konstruktionen mit hydraulisch-elektronischen Scheibenbremsen, und am Lenker integrierten Schaltungen. Materialien aus Stahl, Leichtmetall bis zu Karbon und Kevlar. Ebenfalls aus den sündteuren modernen Basiswerkstoffen: Schuhe, durchweg mit den „Click“-Verbindungen, Helme aus Glasfiber und Karbon.
Es ist ein hartes Stück Arbeit, denn zwischen 1.500 und 1.700 Höhenmeter am Stück, je nach Startort, müssen alleine während der Auffahrt bei einer Maximalsteigung von 13,3 Prozent bezwungen werden. Oben endlich: der Blick nach Osten und Norden reicht bis in die schneebedeckten französischen Hoch- und Seealpen, die Sicht nach Süden über riesige Weinfelder zeigt das breite Rhonetal bis zum Mittelmeer.
Zu Lebzeiten von Francesco Petrarca war weder das Fahrrad erfunden noch das Gelbe Trikot genäht. Ein Blick zurück: Wir schreiben den 26. April 1336. Petrarca studiert und lehrt in Avignon, sieht fast jeden Tag den weißen Kalk- und Granitriesen im nahen Osten der Universitätsstadt. Er ist damit zwar sicher nicht der Allererste, der den verkarsteten breiten Gipfel besteigt (Schäfer und Jäger waren sicherlich schon vorher dort oben), aber eben der Erste, der über den mühsamen und tagelangen Aufstieg berichtet. Weswegen er bis heute als Erstbesteiger des Berges der Winde gilt.
Text & Fotos Frank Nüssel