Nicht ganz so spektakulär, weit irdischer, aber immer noch faszinierend, empfindet im Herbst desselben Jahres Helene Voigt Diederichs (1875-1961) die Eisenbahn. Als die 36-Jährige eine Englandreise antritt, sind die Lebensumstände der heute nahezu vergessenen Schriftstellerin so ungewöhnlich wie die Reise selbst: Die Ehe mit dem deutschen Verleger Eugen Diederichs ist gescheitert, die vier gemeinsamen Kinder sind dem Vater zugesprochen worden. Reisebegleiter ist ihr neuer Lebensgefährte Steff Hatfield, Ingenieur bei Zeiss. Die Reise ist ein Abenteuer, aber – weit wichtiger – der Aufbruch in ein neues Leben.
Welchen Eindruck dieses Abenteuer auf sie macht, zeigt schon der Beginn der Reise:
Nur zögernd betritt sie den englischen Zug, der «Menschen und Gepäck» verschluckt.
Beim Anblick der «derben viel erfahrenen Ledersäcken der Engländer von unbegrenzter Dauer und Aufnahmefähigkeit» erscheinen ihr die «deutschen Koffer, schamhaft in Hüllen von Leinewand ihre unsolide Jungfräulichkeit jahraus, jahrein bewahrend.» Im neuen Land ist es zunächst die Landschaft, die die Schriftstellerin beeindruckt – Früchte tragende Felder, blühende Wiesen, unfruchtbares Moorland und waldiges Hügelland. Schon die Chausseen erscheinen ihr ungewöhnlich reizvoll, eingefasst zwischen Grasstreifen, begrünten Fußwegen und dunklen Hecken. Sie ist nicht einfach «Touristin»; sondern erkennt jede Veränderung der Landschaft auch in Bezug zur Wirtschaftlichkeit für die Bewohner. So bemerkt sie unter anderem, wie Weideflächen langsam verschwinden, um «Kornhaufen» Platz zu machen.
Im Jahr 1911 heißt Reisen für Helene Voigt-Diederichs aber auch: Wo nicht mit der Eisenbahn gefahren werden kann, muss man wandern. Was unter anderem bedeuten kann, auf dem Weg von der hereinbrechenden Nacht überrascht zu werden und in einer verlassenen Steinhütte zu übernachten. Als Nachtlager dient dann geschnittenes Heidekraut.
Aus dem anfänglichen Zögern wird eine echte Euphorie: Weil sie sich vom Alltag, von den Menschen und ihrer ganz normalen täglichen Arbeit begeistern lässt, fühlt die Englandreisende sich «ohne es noch zu kennen, schon vertraut mit einem Land, in dem mit so viel Kraft und Lust gearbeitet wird.»