Rapide wächst andererseits der verständliche Hunger der Schwellenländer nach Mobilität und Motorisierung. Gleichzeitig nimmt die Sorge zu, wie alle jetzigen und künftigen Fahrzeuge betrieben werden sollen, wenn sich die Erdölproduktion wahrscheinlich nicht einmal auf aktuellem Niveau halten lässt. Schlimmstenfalls versiegen die Quellen in absehbarer Zeit. Und dann? Vor diesem Tag X fürchtet sich die ganze, doch so völlig vom Öl abhängige Welt. Mobilität aber zählt unbestreitbar zu dem, was wir als Lebensqualität bezeichnen. In gleichem Maße wächst das Bedürfnis nach gesünderer Umwelt, weniger Lärm, weniger Verkehrsbelastung.
Unbewusst ahnt wohl jeder, dass sich das Verkehrsgeschehen in seiner heutigen Form nicht mehr lange aufrechterhalten lässt –
das ideale Spannungsfeld für herbeieilende Untergangspropheten, aber auch für ernst zu nehmende Zukunftsforscher und Weichensteller.
«Challenge Bibendum» lautet der etwas gewöhnungsbedürftige Name für eine Veranstaltung der Zukunftsmobilität, die jedes Jahr in einem anderen Land gastiert. Rio, Shanghai, Paris oder San Francisco lauteten die illustren Treffpunkte früherer Jahre. Diesmal lud Michelin in die deutsche Hauptstadt als globalen Treffpunkt für Forscher, Naturwissenschaftler, Ingenieure, Fahrzeughersteller und Politiker. Sie alle tauschten sich in über dreißig Workshops, Seminaren, Vorträgen und Diskussionen aus und versuchten die Frage zu beantworten: Wie lässt sich der Kraftstoffverbrauch massiv senken, der CO2-Ausstoß spürbar reduzieren und die Energieversorgung nachhaltig sichern? Präsident Matthias Wissmann vom Verband der Automobilindustrie (VDA) unterstrich bei der Eröffnungsfeier die Bedeutung alternativer Antriebe. Das sei nicht nur eine Imagefrage, sondern Notwendigkeit: «Weltweit wächst jede Woche die Zahl der Menschen, die in Megacitys leben, um rund eine Million.» Wie bitte? Jede Woche, nicht jedes Jahr? Korrekt.
Zum ersten Mal hatte auch die Öffentlichkeit Zutritt zu der Mammut-Messe. Am Besucher-Wochenende säumten gut 21.000 Zuschauer das weiträumig abgesperrte Brandenburger Tor, das als Catwalk der Elektromobile, Hybridfahrzeuge oder Brenstoffzellenautos diente. Vom skurrilen Solarzellen-Gefährt mit dem Charme einer halboffenen Sardinendose, über ein froschaugiges E-Stadtmobil mit Sympathie-Bonus, bis hin zum 80 km/h schnellen Super-Fahrrad mit Lithium-Ionen-Powerakku war alles vertreten, was aus eigener Kraft rollen konnte und einen glaubhaften Technisierungs- und Reifegrad hatte. 150 Experimental- oder seriennahe Fahrzeuge ließen sich sehen. Und auch hören – wenn man die Ohren weit aufspannte, denn viele Fahrzeuge machten sich bestenfalls durch Surren oder Zischen bemerkbar. Knatternde Bastelkisten fehlten gottlob ebenso wie abschreckende Neuauflagen des Heinkel-Kabinenrollers, die bestenfalls von Öko-Extremisten akzeptiert würden. Niemand will heute ernsthaft auf Komfort, Sicherheit und eine gewisse Gediegenheit verzichten. Minimalistische Sparbüchsen – nein danke, so der gefühlte Tenor der unzähligen Challenge-Besucher.
Was alle spürten, die Hersteller vollmundig versprachen und die Politiker gebetsmühlenartig forderten, ist bekannt: ein gewollter rascher Umstieg in alternative, verlässliche Antriebe, mittelfristig weg von Benzinern und Dieselfahrzeugen, die paradoxerweise derzeit ihrer technischen Hochreife zustreben.
Berlins kameraverwöhnter regierender Bürgermeister Klaus Wowereit hisste persönlich die grüne Startflagge zu zwei Energiespar-Rallyes, die die Fahrzeuge vom ehemaligen Flughafen Tempelhof quer durchs einsame und von Alleen durchzogene Brandenburger Land führten. Der Auftrag: 325 Kilometer so sparsam wie möglich hinter sich zu bringen, sprich: Sprit sparen, Akkus schonen, Rollwiderstand gering halten. Smarter Umgang mit Ressourcen als Herausforderung, für anachronistische Kavalierstarts keine Chance. Dann Zwischenstopp mit Bremstests, Wasserfahrten und Handlingparcours. Schließlich sollte jeder live erleben, dass die Zukunftsautos alltagstauglich und belastbar sind.
Doch der eigentliche Geist der Challenge Bibendum wehte nicht an der Tankstelle im Zieleinlauf Tempelhof, sondern um die Köpfe der rund 6.000 Fachbesucher aus über 80 Ländern und über 600 angereisten Journalisten. Bewusstseinsschaffung war das Ziel der Veranstalter. Eine Plattform bieten für die Akteure aus Politik, Medien, Wirtschaft und  den Hochschulen – alle auf der Suche nach neuen Lösungen für eine bessere Mobilität, für mehr Energieeffizienz. Das betrifft sowohl die Fahrzeugtechnologie als auch die Infrastrukturentwicklung und die Verkehrssicherheit.
Kein Zweifel: Allen Anwesenden war klar, dass diese und alle ähnlichen Veranstaltungen kein Testlauf mehr sind, dass vielmehr die Weichen für die Mobilität 2.0 jetzt gestellt werden. Der Zug rollt also kraftvoll an, die Passagiere haben schon mal erwartungsvoll Platz genommen. Nur das Ziel, die Ankunftszeit und selbst die Route sind noch ungewiss. Auch der Fahrpreis wurde den Gästen noch nicht genannt. Und das sind die Fakten: Das Thema alternative Antriebe ist bei Weitem nicht so weit, wie es sein könnte – weder technologisch noch öffentlich. Beim Abschied vom Öl als Brennstoff tut sich die gesamte Gesellschaft noch sehr schwer. Bis heute kann die Industrie nicht sagen, warum sich Kunden etwa beim Erdgas als Antriebsquelle so schwer tun. Ähnliche Gefühlslage beim von allen Seiten gepushten, stark beobachteten und doch nicht so recht gewollten E-Mobil: umweltfreundlich, neuartig – aber für das alltägliche Leben ziemlich unbrauchbar. Motto: «Tolle Sache, aber soll der Nachbar mal damit anfangen.»
Service, Ladestationdichte, abschreckend geringe Reichweiten: Groß sind die Fragezeichen.
Peinlich: Kein deutscher Hersteller bietet derzeit ein sofort käufliches E-Fahrzeug an. Die Japaner sind da einen Schritt weiter.
Wieder einmal. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch, dass «nur» ein Zulieferer diese Welt-Messe der Automobilität seit Jahren veranstaltet. Und kein Automobilhersteller.
Und dennoch: Überall entstehen auf der Welt in puncto Mobilität neue Ideen, neue Produkte, neue Arbeitsplätze. Gleichzeitig interessieren sich gerade junge Leute nicht mehr so sehr für das Automobil. Als Statussymbol hat es langsam ausgedient – das Smartphone ist hip, nicht der Führerschein.
Das macht den Weg frei für unorthodoxe Lösungen für die Fahrt von A nach B. Michelin hat die Unsicherheiten, aber auch die Chancen dieser «Bewegung» erkannt und sie in Berlin kanalisiert, benannt und zur Schau gestellt. Eine Antwort auf alle brennenden Fragen konnte der Reifenriese jedoch auch nicht geben.