Zweimal war ich schneller als der Tod: Zuerst am 5. Januar 1983, als mein roter Matra Murena durch Aquaplaning auf die Gegenfahrbahn schleuderte und von einem entgegenkommenden Mercedes zerfetzt wurde. Reanimiert noch am Unfallort, bewusstlos auf der Intensivstation im Krankenhaus Landshut. Bis zu meinem ersten Unfall war ich im Marathonlauf deutsche Spitzenklasse, fortan jedoch gehbehindert und konzentrierte mich ganz auf meine Arbeit als Journalist. 2004 entrissen mich die Chirurgen mit einer Darmkrebs-Notoperation zum zweiten Mal dem Sensenmann. Jetzt liegt es an mir (genauer gesagt: an meinem falschen Handgriff), ob der mich vorzeitig einholt, den ich freilich nicht fürchte. Täglich sterben allein in Deutschland rund 200 Menschen an den Folgen ihres Alkoholkonsums. Es geht darum, das gefüllte Glas stehen zu lassen – mit 61 Jahren, nach einem halben Leben in Alkoholkrankheit, fünf Entzugskuren und verschiedenen Entgiftungen.
«Ludwig Mario Niedermeier hat 1978 als verantwortlicher Redakteur der Zeitung «die Woche» mit vielen guten Beiträgen auf den verschiedensten Gebieten der Unfallverhütung zur Hebung der Verkehrssicherheit beigetragen. Es ist ihm sicher gelungen, seinen Leserkreis im Sinne der Bestrebungen der Stiftung zu interessieren und positiv zu beeinflussen. Dafür gebührt Ludwig Mario Niedermeier Dank und Anerkennung», urteilte das HUK-Verband-Preisrichterkollegium der Christopherus-Stiftung und verlieh mir als Redakteur der regionalen Zeitung «die Woche» den Christopherus-Autoren-Anerkennungspreis 1978. 28 Jahre später fiel nach einer Trunkenheitsfahrt das Urteil des Amtsgerichtes Regensburg dagegen vernichtend aus: «Eine bei dem Angeschuldigten entnommene Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration von 2,49 Promille.» Das wichtigste Papier jedes Motorjournalisten, der alte graue Führerschein mit meinem Jugendbild, wurde «kassiert» – einer von 280.000, die jährlich wegen Alkoholkonsums eingezogen werden.
Spät, viel zu spät, jetzt mit klarem Kopf, gestand ich mir ein, alkoholkrank zu sein und beschäftigte mich intensiv mit dem Thema. Mir wurde schnell klar, dass es ohne fachkundige Hilfe von Psychologen und Ärzten nicht gelingt, mich aus der Abhängigkeit zu lösen. Die Abhängigkeit von Alkohol und es sich selbst einzugestehen entwickelt sich oft erst im Laufe vieler Jahre.
Warum wird jemand süchtig? Bis heute ist es nicht gelungen, diese Frage generell verbindlich zu beantworten. Die Suchtpersönlichkeit, die Suchtfamilie, die Suchtursache – all das gibt es nicht. Immer sind es eine Reihe von Faktoren, die in dem meist mehrere Jahre dauernden Prozess der Suchtentwicklung zusammenwirken – und die in einer intensiven Auseinandersetzung mit der konkreten Lebensgeschichte der/des Betroffenen verstanden werden müssen.
Anfangs ist der Griff zum (späteren) Suchtmittel ein Erfolg: Je nach Wirkungsweise des jeweiligen Mittels und der persönlichen Verfassung fühlt man sich erleichtert und entlastet, zum ersten Mal seit langem wieder richtig entspannt, ist «gut drauf», gehört dazu. Der Alltag rückt in weite Ferne.
Wer erst einmal gelernt hat, Stimmungen und Gefühle mithilfe des Suchtmittels zu steuern, gerät in die Versuchung, dies immer häufiger zu tun. Doch der positive Effekt verfliegt in der Folgezeit immer rascher und die Fähigkeit, auf die persönlichen Schwierigkeiten angemessen zu reagieren, nimmt weiter ab. Inzwischen ist der Wunsch, das Mittel zu konsumieren, allerdings so stark geworden, dass immer häufiger und aus völlig unterschiedlichen «Gründen» missbraucht wird – zunächst immer noch in der trügerischen Hoffnung, Wohlbefinden zu erreichen. Schließlich wird der Versuch, durch immer mehr des ungeeigneten Mittels eine bessere Wirkung zu erreichen, zum Verhängnis: ein Glas, eine Flasche, mehrere Flaschen über den ganzen Tag verteilt. Das Suchtmittel wird zum Dreh- und Angelpunkt aller Handlungen, Gedanken und Gefühle. Nach und nach geht es nur noch darum, die tiefe Missstimmung zu vermeiden, die durch das Fehlen des Suchtmittels entsteht. Die Sucht hat die ursächlichen Probleme überlagert und neue geschaffen.
Nach fast drei Jahren Abstinenz wurde ich rückfällig. Dies galt lange nicht nur im Bewusstsein der Kranken und ihrer Angehörigen, sondern auch bei vielen Therapeuten und Ärzten als ein Zeichen des Versagens: der eigenen Willenskraft, der sozialen Unterstützung, der Therapie. Erst in letzter Zeit denkt man um, wird der Rückfall sowohl von den Wissenschaftlern als auch von den Therapeuten als direkter Bestandteil der Alkoholkrankheit akzeptiert.
Trotz inzwischen mehrmonatiger Abstinenz ist mir bewusst, dass es Heilung im eigentlichen Sinne nicht gibt. Die Krankheit kann durch Abstinenz «nur» gestoppt werden. Einen für mich hilfreichen therapeutischen Ansatz gibt es in der Salus-Klinik in Friedrichsdorf, auf deren Internetseite ich verweise. Deren Direktor, Diplom-Psychologe Ralf Schneider, hat ein überaus empfehlenswertes Buch zum Thema «Alkoholkrankheit» verfasst. Für persönliche Unterstützung während der Suchttherapie in Regensburg, danke ich zudem Frau PD Dr. med. Monika Ridinger, heute Chefärztin an der Forel Klinik in Ellikon an der Thur (Schweiz).
Jedes Jahr sterben in Deutschland nach neuen Berechnungen mindestens 73.000 Menschen an den Folgen ihres Alkoholmissbrauchs. In der Gesellschaft herrscht eine weit verbreitete unkritische positive Einstellung zum Alkohol. Durchschnittlich werden pro Kopf der Bevölkerung jährlich zehn Liter reinen Alkohol (300 Flaschen Bier oder 60 Liter Wein mit 12 Volumenprozent) konsumiert. Knapp 10 Millionen Menschen in Deutschland konsumieren Alkohol in gesundheitlich riskanter Form. Etwa 1,3 Mio. Menschen (70 % Männer, 30 % Frauen) gelten als alkoholabhängig – groß ist zudem die Dunkelziffer.
Wie war das doch gleich mit dem Adjektiv «trinkfest» als Kompliment? Ich schlage es als «Unwort des Jahres» vor. Wenn es gewählt wird, stoßen wir darauf an – mit Mineralwasser.