Was an jenem 12. März 1952 quasi aus dem Nichts auf der Autobahn zwischen Stuttgart und Heilbronn auftaucht, ist ein Ding aus einer anderen Welt. Wie ein windschlüpfiges Projektil schmiegt sich seine Leichtmetall-Karosserie über den nur 50 Kilogramm schweren Gitterrohrrahmen, der das Rückgrat des unbekannten Fahrobjekts bildet. Weniger als 1,30 Meter ist das Coupé hoch, und es wiegt lediglich rund 1.100 Kilogramm. Der 2.996 ccm große Reihensechszylinder unter der langen Motorhaube leistet rund 170 PS bei 5.200 U/min fast sieben Mal so viel wie der Vierzylinder-Boxer eines zeitgenössischen Käfers. An einem 1:5-Modell ohne Motorraum-Durchströmung wird ein Luftwiderstandsbeiwert von unglaublichen cw=0,25 ermittelt. Und die Höchstgeschwindigkeit liegt bei überirdischen 230 km/h.
Ungläubig blättern die geladenen Pressevertreter an jenem Märztag in den Unterlagen, die Mercedes-Benz anlässlich der Präsentation des neuen 300 SL-Rennsportwagens der Baureihe W 194 auf genannter Autobahn ausgeteilt hat. Doch die Daten sind realistisch–und machen das Kürzel «SL», das für «Super-Leicht» steht, auf Anhieb zu einem Synonym für eine Sportwagen-Legende, deren jüngster Spross auf der Detroit Autoshow im Januar 2012 Weltpremiere feiert.
Dabei ist der Urahn streng genommen eine Notgeburt. Bereits 1950 spielt Mercedes mit dem Gedanken, in den Grand-Prix-Rennsport zurückzukehren, um an die unvergessenen Erfolge der «Silberpfeile» aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg anzuknüpfen. Unter anderem aus Kosten- und Kapazitätsgründen entscheidet sich der Vorstand jedoch für einen Rennsportwagen und gibt den Startschuss für die Entwicklung des 300 SL. Bei aller Genialität ist das Coupé auch ein Beispiel für die geschickte Nutzung vorhandener Ressourcen. So ist der schräg eingebaute Ren nmotor mit Trockensumpfschmierung und drei Solex-Fallstromvergasern vom Reihensechszylinder der 300er-Limousine–heute besser bekannt als «Adenauer-Mercedes»–abgeleitet. Neben anderen Komponenten stammen auch die Achsen des 300 SL von dieser imposanten Repräsentationslimousine.
Ein Geniestreich ist der Gitterrohrrahmen, der unter der Ägide von Rudolf Uhlenhaut, damals Leiter des Pkw-Versuchs bei Mercedes, entwickelt wird. Auch die Karosserieexperten leisten ganze Arbeit: Um den Aufbau besonders strömungsgünstig zu machen, werden die Scheinwerfer in die Kotflügel und der Mercedes-Stern in das Kühlergitter integriert, bis heute das Erkennungszeichen aller SL-Modelle von Mercedes-Benz. Da der Gitterrohrrahmen im Bereich der Fahrgastzelle konstruktionsbedingt besonders breit ist, müssen die Karosseriebauer sich etwas einfallen lassen. Mit den nach oben öffnenden Einstiegsluken gelingt ihnen ein Kunstgriff, der in die Automobilgeschichte eingeht – der «Flügeltürer» ist geboren. Beim Ursprungsentwurf reichen die Flügeltüren lediglich bis zur Oberkante der Bordwand. Weil es deshalb bei technischen Abnahmen zu langwierigen Diskussionen mit den Sportkommissaren kommt, erfolgt eine Änderung: Die Türen werden bis in die Flanken hinein verlängert und erhalten so ihre auch beim späteren 300 SL-Serien-Sportwagen charakteristische Form.
Insgesamt zehn 300 SL-Rennsportwagen werden für die Saison 1952 gebaut, darunter vier Roadster mit abgetrenntem Dach. Auf Siege ist der 300 SL schnell abonniert: Bei der Premiere, der legendären Mille Miglia im Mai in Italien, reicht es schon für die Plätze zwei und vier. Nur zwei Wochen später, beim Sportwagenrennen im schweizerischen Bern, melden die Reporter einen Dreifach-Triumph. Viel größer ist das Aufsehen, als im Juni bei den prestigeträchtigen 24 Stunden von Le Mans ein Doppelsieg folgt. Anfang August fahren vier 300 SL die Konkurrenz beim Sportwagenrennen auf dem Nürburgring in Grund und Boden. Und auch bei der Carrera Panamericana in Mexiko im November, einem mörderischen Langstrecken-Marathon übermehr als 3.000 Kilometer, reicht es für einen viel beachteten Doppelsieg.
Für die Saison 1953 soll der 300 SL grundlegend modifiziert werden. Unter der Konstruktionsbezeichnung W 194/11 entsteht ein Rennsport-Prototyp mit vielen Detailänderungen, zum Beispiel einem Reihensechszylinder mit Benzin-Direkteinspritzung, einer Karosserie aus Magnesiumblech und einem Transaxle-Getriebe. Der Beschluss, 1954 in die Formel 1 einzusteigen, verhindert jedoch, dass die Sportwagen-Aktivitäten weiterverfolgt werden. Der W 194/11 bleibt jedoch die Vorstufe zum 300 SL-Serien-Sportwagen, der 1954 auf der «International Motor Sports Show» in New York vorgestellt wird. Nur 1.400 Flügeltürer, darunter 29 mit Leichtmetall-Karosserie, werden gebaut– sie zählen heute zu den begehrtesten Oldtimern der Welt.