Arsch auf Augenhöhe: Ein ungewöhnliches Buch


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Schlaganfall: Keine seltene Erkrankung mehr, doch immer noch ein gerne tabuisiertes Thema. Die Journalistin Jutta Sein hat jetzt ein Buch dazu geschrieben – genauer: zu ihren Erfahrungen, mit der Diagnose eines Angehörigen zu leben. KÜSmagazin hat mit Jutta Sein über ihr Buch gesprochen.

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Ihr Buch trägt einen sehr drastischen Titel. Warum haben Sie sich dafür entschieden?

Es gibt sogar zwei Erklärungen für den Buchtitel: Ich habe viele Jahre in der Automobil-Industrie gearbeitet und bin in dieser Branche bekannt. Aber ich habe keinen Namen in der Schriftsteller-Szene. Daher sollte es schon ein Titel sein, der provoziert. Wenn schon mein Name nicht „provoziert“. Außerdem ist mit diesem Titel der ganze Inhalt des Buches punktgenau erklärt: Nachdem mein Mann im Rollstuhl saß, hatte er ständig die Ärsche seiner Mitmenschen vor Augen.

In Ihren Beschreibungen fällt auf, dass Sie im Umgang mit Ihrem Mann nach seinem Schlaganfall auf sehr viele Details geachtet haben. Welche waren Ihnen besonders wichtig?

Einen behinderten Menschen darf man auf keinen Fall behindert behandeln. Das mögen die nämlich überhaupt nicht. Ich habe meinen Mann immer so behandelt wie vorher auch. Ich habe seinen Willen respektiert. Auch wenn es mir manchmal wirklich schwerfiel, ihm nicht ins Wort zu fallen, die Zeit habe ich mir genommen, um ihm die Chance zu geben, seinen Satz selbst zu vollenden. Im Rahmen seiner Möglichkeiten habe ich ihn so viel wie möglich selbst machen lassen: Zähne putzen, die Post aus dem Briefkasten holen, die Spülmaschine ausräumen, seine Briefmarken sortieren, Anweisungen zum Pokale-Putzen geben und so weiter.

Sie haben die Auto-Begeisterung Ihres Mannes, die Sie ja mit ihm teilten, auch therapeutisch genutzt. Wie ist das gelungen?

Einer meiner ersten Versuche, ihn wieder ins Leben zurückzuholen, war, dass ich im Krankenzimmer den üblichen Galgen am Krankenbett gegen ein Lederlenkrad ausgetauscht habe, an dem er sich hochziehen konnte. Damit wusste er wenigstens etwas anzufangen. Und ich habe ihm die Wände tapeziert mit Rallyeschildern und -fotos, damit er sofort an seine Motorsport-Karriere erinnert wurde, wenn er die Augen öffnet.

Die Begeisterung galt nicht nur dem Auto, sondern auch dem Motorsport. An welches gemeinsame Erlebnis erinnern Sie sich besonders gern?

Auf Anhieb fällt mir da die Hunsrück-Rallye ein. Als wir die 1977 zum ersten Mal ins Auge gefasst haben, war das ein so großer Brocken, dass wir uns zunächst gar nicht getraut hatten. Was soll’s? Wieso träumen? Machen wir es einfach! Wir haben diese Hunsrück-Rallye, die heute als Deutschland-Rallye auf dem Weltmeisterschafts-Kalender steht, insgesamt zwölf Mal gefahren. Obwohl wir nach dem ersten Mal gesagt haben: Nie wieder. Aber irgendwie ging eine große Faszination von dieser Rallye aus. Gerd hat vor seinem Schlaganfall die Pokale immer selbst geputzt. Da durfte noch nicht mal ich ran. Und zu jedem Pokal ist ihm eine Geschichte eingefallen. Er wusste wann und unter welchen Umständen wir diese oder jene Trophäe bekommen hatten.

Sie behandeln mit dem Schaganfall ein Thema, das immer noch sehr gerne tabuisiert wird. Sie sagen aber auch, dass es jede(n) jederzeit treffen kann. Können Sie uns Tipps geben, wie man im Ernstfall – als Betroffener oder Angehöriger – wertvolle Zeit gewinnen kann?

Ja, das stimmt. Schlaganfall ist fast so etwas wie ein Makel. Es geschieht so vielen, aber die wenigsten trauen sich, öffentlich darüber zu reden. Reden hilft. Man erfährt auf einmal, dass man mit seinem „Problem“ nicht alleine ist; dass mindestens jeder jemanden kennt, der schon einen Schlaganfall hatte. Ich habe auch kein Patentrezept, wie man einen Schlaganfall erkennt, obwohl es in meiner Familie jetzt schon drei Fälle gegeben hat.

Auf alle Fälle sollte man SOFORT die 110 anrufen, wenn der Betroffene apathisch wirkt und durch einen hindurchguckt.

Jeder Fall war anders. Meist tritt ein Schlaganfall plötzlich auf. Da hat man nicht mehr lange Zeit, Spielchen zu machen. Zum Beispiel zu fragen, was heute für ein Tag ist oder einige alltäglich Gegenstände zu zeigen, die derjenige benennen soll. Das Wort „Schlaganfall“ alleine sagt ja schon aus: „Schlag.“ Bei Gerd habe ich es auch nicht vorausgesehen. Es passierte einfach von jetzt auf gleich. Mit dem Vorher habe ich keine Erfahrung. Wohl aber mit dem, was nachher passierte. Und genau diese Erfahrungen, gute und schlechte, habe ich in meinem Buch aufgezeichnet und bin sicher, dass der eine oder andere Tipp hilfreich für Betroffene sein kann.

Mit Jutta Sein sprach Roland Bernd.

Layout 1

Jutta Sein; Arsch auf Augenhöhe; Books On Demand; Print: 11,90 Euro E-Book: 5,90 Euro

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