Sehen und gesehen werden
«Eine der wichtigsten Fragen bei nächtlichen Unfällen mit Personenschäden ist die Frage der optischen Wahrnehmbarkeit», sagt Dr. Marcus Berg. Der Unfallanalytiker weiß sehr genau wovon er spricht. Wann wurde der verunfallte Fußgänger vom Autofahrer gesehen, wie wurde er wahrgenommen? Konnte er als Fußgänger erkannt werden und wurde entsprechend schnell reagiert? Welchen Einflüssen optischer Art war der Autofahrer ausgesetzt? Die Klärung dieser Fragen ist für alle Beteiligten bei einer gerichtlichen Auseinandersetzung von eminenter Wichtigkeit. «Die Unfallanalyse ist immer fallbezogen, jede Situation stellt sich anders dar», so Dr. Berg. Dies gilt insbesondere für die Rekonstruktion eines Unfalls, bei dem es um die optische Wahrnehmbarkeit geht. Unterstützung für seine Arbeit bekommt KÜS-Partner Berg von der Universität seiner Heimatstadt Paderborn sowie dem Automobilzulieferer Hella aus Lippstadt. Das Kompetenzzentrum Licht der Hochschule, kurz L-LAB genannt, arbeitet sehr eng mit dem Leuchtmittelhersteller Hella zusammen. Der große Erfahrungsschatz der Lichttechniker und modernste Hightech-Ausrüstung stehen auch Dr. Marcus Berg zur Verfügung und helfen ihm bei seiner Arbeit rund um die Fragen der optischen Wahrnehmung bei Unfällen.
«Sehen und gesehen werden gilt nicht nur für die ohnehin schon schillernde Party-Szene, sondern ganz besonders auch bei nächtlichen Verkehrsunfällen», bemerkt Dr. Berg.
Mit dem Helligkeitsunterschied fängt alles an
Wenn ein Fußgänger im nächtlichen Straßenverkehr gesehen wird, dann hat er einen sogenannten Helligkeitsunterschied zu seiner unmittelbaren Umgebung. Das bedeutet, dass die Helligkeit, oder die Leuchtdichte – wie der Lichttechniker sagt, gegenüber der Leuchtdichte seiner Umgebung höher oder geringer ist. Soweit so gut. Die Lichttechniker reden auch vom Schwellenleuchtdichteunterschied und meinen damit den kleinsten noch sichtbaren Helligkeitsunterschied von Fußgänger und Umgebu ng. Er kann variieren mit den verschiedenen Randbedingungen der Unfallsituation, beispielsweise dem Sehwinkel des Autofahrers auf den Fußgänger. «Bei der lichttechnischen Bewertung von Unfallsituationen werden all diese Dinge mit in die Berechnungen einbezogen, um so sehr nahe an das Wahrnehmungsgeschehen in der realen Unfallsituation heranzukommen», sagt KÜS-Partner Dr. Berg. Die Basis für die eigentliche Unfallrekonstruktion ist die Nachstellung des Unfalls an den Originalplätzen, so Dr. Berg.
Nächtliches Szenario zur Wahrheitsfindung
Der reale Unfall, um den es hier gehen soll, ereignete sich im Winter 2007 gegen 21.00 Uhr auf einer Straßenkreuzung in Bad Lippspringe. Bei der Nachstellung des Crashs wird die Kreuzung komplett und weiträumig gesperrt. Die Entfernungen, etwa die des Unfallautos zum Unfallopfer, resultieren aus den Analysen von Dr. Marcus Berg. Eine Schaufensterpuppe wurde mit der original zum Unfallzeitpunkt vom Opfer getragenen Kleidung angezogen. Ein ganz wichtiger Punkt: Die vor ort installierte Straßenbeleuchtung wurde genau so eingestellt wie am Unfalltag. Für die Beleuchtung des Unfallfahrzeuges wurden die genau baugleichen Scheinwerfer gewählt. Im Fahrzeug selbst wurde die Kamera in der präzisen Augenposition des Autofahrers positioniert. Hinter dem technisch-kühlen Begriff LMK 98-3 Color verbirgt sich ein Stück Hochtechnologie im Kamerabereich. Das Gerät misst die Helligkeitsverteilung, wie sie vom Autofahrer gesehen wurde. Hella nutzt die Kamera beispielsweise auch bei der Beurteilung der Gleichmäßigkeit der Beleuchtung bei ihren Produkten für die Fahrzeugindustrie. Im konkreten Fall der Unfallrekonstruktion werden etwa 30 Aufnahmen angefertigt, um die Fußgängerpositionen während des gesamten Unfallverlaufes darzustellen. «Um eine feste Ausgangsposition zu haben, wurden zunächst die Regionen auf dem Fußgänger gesucht, die die höchsten Leuchtdichteunterschiede zum unmittelbaren Hintergrund haben», so Fabian Stahl vom L-LAB in Paderborn. «Wenn etwas vom Fußgänger sichtbar ist, dann sind es diese Stellen», so der Lichttechniker Stahl. Im vorliegenden Fall waren es der Kopf, der Oberkörper und der Beinbereich des Fußgängers, die Werte der Umgebung wurden ebenfalls ermittelt. Mit diesen Referenzwerten ging es nun an das Fotografieren der verschiedenen Fußgängerpositionen.
Für die Technik-Freaks dazu die ganz konkrete Information: Mit den Daten der Leuchtdichtemesskamera kann der Öffnungswinkel eines einzelnen Pixels berechnet werden. Durch Auszählen der Pixel des kritischen Sehdetails kann nun eine Sehobjektgröße in Winkelminuten ermittelt werden.
Im vorliegenden konkreten Fall waren die Lichttechniker sich sicher: In allen möglichen Positionen von Fahrzeug und Fußgänger hätte der Fußgänger von dem Autofahrer sicher erkannt werden müssen. Die Lichttechniker beziffern die Wahrscheinlichkeit des Erkennens, zumindest in Teilbereichen, mit größer als 99,995 Prozent.
Für KÜS-Partner Dr. Marcus Berg ist die Arbeit mit den Lichttechnikern vom Paderborner L-LAB eine positive Sache. «Die Gutachten haben eine extrem hohe Sicherheit in ihren Aussagen. Die Zusammenarbeit funktioniert hervorragend, wir profitieren gegenseitig von unseren Erfahrungen. Für mich als Unfallanalytiker ist es außerdem sehr interessant, wenn ich mit der absolut neuesten Technik arbeiten kann!»