Warum das immer noch so ist, warum offenbar alle beteiligten Bedenken- und Entscheidungsträger immer noch einen großen Bogen um diese «heilige Kuh» machen und befürchten, sich an dieser hitzigen Diskussion die Finger zu verbrennen, war Thema eines Presseseminars des Deutschen Verkehrssicherheitsrates. Der DVR versucht schon seit Längerem, und das mit nicht gerade zimperlichen Mitteln, auf die Risiken überhöhter Geschwindigkeit aufmerksam zu machen. Etwa mit regelrechter Schockwerbung, mit drastischen Autobahnplakaten, auf denen schwer Verletzte, deren verzweifelte Angehörige oder auch Todesanzeigen abgebildet werden.
Ins Bewusstsein der großen Masse der Bevölkerung ist diese Kampagne aber wohl noch nicht so gerückt, wie man sich das von Seiten des Initiators gewünscht hätte. Ergo steht immer noch die Frage: «Tempolimit ja oder nein?» im Raum. Das wie auch immer begründete Recht auf ungetrübten Gasfuß-Genuss war in der Autonation Deutschland stets ein Tabu gewesen. Bislang hat zumindest noch jeder Bundesverkehrsminister klar gemacht, dass es während seiner Amtszeit kein Tempolimit geben werde. Das ist auch beim derzeitigen Amtsinhaber Peter Ramsauer (CSU) nicht anders.
Die Freiheit des Einzelnen hört dort auf, wo sie die Sicherheit des Mitmenschen beeinträchtigt oder diesen Schaden an Leib und Leben zugefügt wird.
Der Verkehrspsychologe Professor Bernhard Schlag von der Technischen Universität Dresden vertritt die These: «Viele Leute fühlen sich offenbar in einem wesentlichen Teil ihrer Freiheit eingeschränkt, wenn sie beim Fahren auf der Autobahn etwas strengeren Regeln folgen müssten. Wenn man jedoch davon ausgeht, dass die Freiheit des Einzelnen immer da endet, wo ihre Ausübung dem anderen schaden kann, ist das sicherlich ein Beispiel für ein Missverständnis individueller Freiheit.» Der renommierte Unfallforscher ist sich jedoch ziemlich sicher: «Ich gehe davon aus, dass wir bis 2020 ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen haben werden. Nicht so sehr, weil man großartige Einsichten hatte, sondern weil es eine Angleichung der Regeln innerhalb der EU geben wird.»
Gesetzliche Geschwindigkeitsbeschränkungen auf deutschen Autobahnen aber wurden nicht erst in der Neuzeit mit viel «Wenn und Aber» und großem medialem Getöse diskutiert. So drückte die erste Ölkrise von November 1973 bis März 1974 mächtig auf das Tempo und die Leistung der Fahrzeuge. Dass es aber auch zumindest für einen gewissen Zeitraum mit einer fest definierten Geschwindigkeits-Regelung ging, zeigten jene Monate: Ab dem 24. November 1973 nämlich galt für vier Monate Tempo 100 auf Autobahnen und Tempo 80 außerhalb geschlossener Ortschaften. Zudem wurde für vier Sonntage vom 26. November bis 16. Dezember 1973 Fahrverbote abwechselnd für gerade und ungerade Kennzeichen festgelegt.
Zu einem allgemeinen Umdenken aber führte auch diese außergewöhnliche Situation im «Autobahn-Schlaraffenland» Deutschland nicht. Die Zeit für «ökologisches und grünes Gedankengut» war einfach noch nicht reif. Und damit auch nicht für eine Verschärfung der Sicherheitsbestimmungen zum Schutze anderer Verkehrsteilnehmer und letztendlich auch sich selbst. Die danach einsetzende öffentliche Debatte, die ein dauerhaftes Tempolimit auf Autobahnen verhindern sollte, hatte jedenfalls Erfolg. Das vom damaligen Bundesverkehrsminister Lauritz Lauritzen vorgesehene Tempolimit von 130 km/h ließ sich trotz eines Kabinettsbeschlusses nicht durchsetzen.
Mit einem Tempolimit von 130 auf Autobahnen ließe sich die Zahl der Unfalltoten um rund 20 Prozent
senken.
Dieser kurze Exkurs in die Vergangenheit zeigt: Die Diskussion über das Tempolimit war in Deutschland, dem «Land der unbegrenzten Möglichkeiten» auf den Fernstraßen, schon immer ein Thema, dem es weder an Brisanz noch an verschiedensten Blickwinkeln und Argumenten pro und contra mangelte. Einer, der mit Verve und faktischen Grundlagen der Beschneidung der unbegrenzten Raserei das Wort redet, ist Polizeidirektor Martin Mönninghoff, Dozent an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster. Mönninghoff gehörte zu den Referenten des Expertengremiums, das der DVR zum Thema «Regeln und Regelbefolgung» eingeladen hatte.
Seine auf empirischen Daten basierende These lautet: «70 Prozent aller tödlichen Unfälle ereignen sich in der Regel dort, wo es keine Geschwindigkeitsbegrenzungen gibt.“ Mit einem Tempolimit von 130 auf Autobahnen ließe sich die Zahl der Unfalltoten um rund 20 Prozent senken, sagt Mönninghoff. Auch unter dem Eindruck von tragischen Ereignissen, wie etwa der Massenkarambolage auf der Autobahn Berlin-Rostock im März vergangenen Jahres mit acht Toten, rufen die Befürworter eines Tempolimits wieder auf den Plan.
Mönninghoff zitierte unter anderem eine ausländische Studie, wonach eine Senkung der Durchschnittsgeschwindigkeit um ein Prozent vier Prozent weniger Tote zur Folge habe. Im Verlauf einer lebhaften Diskussion des Plenums wurde dieser Argumentation aber auch entgegengehalten: «Als Regulativ wird bei diesem Beispiel eine Senkung der Durchschnittsgeschwindigkeit, nicht aber eine Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit herangezogen.» Auf das Problem der Befolgung von Rechtsgrundlagen ging im Zusammenhang mit der Tempolimit-Diskussion auch Dr. Paul Brieler vom IFS Institut für Schulungsmaßnahmen in Hamburg ein. Gerade beim Brennpunkt «Raserei auf Autobahnen» sei die Rechtsauffassung Betroffener mitunter erschreckend.
416.000 Autofahrer/innen hatten 2010 die «Schallgrenze» von acht Punkten im Verkehrszentralregister in Flensburg, ab deren Erreichen man eine Verwarnung erhält, erreicht. Deutliche «Punktsieger» in dieser Bilanz seien Personen gewesen, die die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit am «Tatort» um mehr als 21 Prozent überschritten hatten. Insgesamt gingen 57,4 Prozent aller Delikte auf das Konto der Gasfuß-Exzentriker.
Das «Übertreten verkehrsregelnder Bestimmungen», so Brieler, komme aus der Mitte der Gesellschaft. Diese Handlungsweise sei ein weit verbreitetes Phänomen, vergleichbar mit dem Umgang mit dem Finanzamt. «Sehr häufig hören wir Aussagen wie: Alle fahren doch so.»
Ein Schuldbewusstsein ist also bei den wenigsten Ertappten offensichtlich. So lange dies aber der Fall bleibt, wird auch der Wunsch nach einer Regulierung der Geschwindigkeit auf unseren Fernstraßen nicht repräsentativ sein. Es wird nicht aus der Mitte der Gesellschaft kommen. Gleiches aber gilt auch fest zu halten für diejenigen, die dem unbegrenzten Ausschlag der Tachonadel das Wort reden.
Die Diskussionen um Tempolimit, um den «Sicherheits-Blitz», der alles andere als pure Abzocke ist, werden auch in Zukunft nicht aufhören. Weder in solchen Seminaren, noch am Stammtisch.
Maß aller Dinge sollte bei aller Diskussionsfreudigkeit, die ja auch einen Grundwert unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung darstellt, Folgendes sein: Die Freiheit des Einzelnen (auch beim Betätigen des Gaspedals auf der Autobahn) hört dort auf, wo sie die Sicherheit des Mitmenschen beeinträchtigt oder diesen Schaden an Leib und Leben zugefügt wird.