Im Herbst 2018 hat KÜSmagazin erstmals über dieses Projekt berichtet (Ausgabe 56). Kurz zur Erinnerung: Die allermeisten der in den 1960/1970er Jahren gebauten Brücken der A45 – der Sauerlandlinie – genügen den heutigen Anforderungen nicht mehr und werden sukzessive durch Neubauten ersetzt. So auch das knapp 1.000 Meter lange Bauwerk, das bei Hagen das Flüsschen Lenne überquert. Zunächst wurde neben der bestehenden A45 eine neue Brücke für die spätere Fahrtrichtung Frankfurt gebaut. Dann legte man den gesamten Verkehr auf die Neue und sprengte den alten Talübergang. In die alte Trasse wurde anschließend die Fahrtrichtung Dortmund gebaut. Zugleich entstanden westlich davon 13 zusätzliche Pfeiler. Und genau auf diese sollte jetzt die Fahrtrichtung Frankfurt verschoben werden. Nahezu unbemerkt und unbeeinträchtigt vom fließenden Verkehr auf der A45, denn der war längst auf das östliche Brückenbauwerk gelegt worden.
Jetzt also ist der große Tag da. Projektleiter Neumann trägt eine Riesenverantwortung. Und doch wirkt er sehr ruhig, gibt ein Interview nach dem anderen, als wäre es ein ganz normaler Tag auf dieser Riesen-Baustelle, die er schon seit Jahren betreut. Ob er überhaupt geschlafen habe, wird der Ingenieur gefragt. Ja, sogar vergleichsweise gut, erwidert er. Zur Beruhigung hat sicher beigetragen, dass man schon am Vorabend die ersten paar Zentimeter absolviert hat. Man wollte auf Nummer sicher gehen, denn der Medienauflauf ist schon gewaltig.
40 bis 50 Eimer Fett
Zwischen den 13 provisorischen Pfeilern, auf der die Fahrtrichtung Frankfurt derzeit noch ruht, und den neuen, endgültigen Stützen sind Querverbindungen gegossen worden. Auf ihnen soll die Brücke in ihre neue Position gezogen werden. Jawohl, gezogen, obwohl immer von Verschub die Rede ist. Hinter jedem Pfeiler sowie an den beiden Widerlagern ist ein Hydraulikaggregat montiert, von dem aus ein ganzes Bündel gut daumendicker Stahlseile zu Schlitten gespannt ist. In den meisten Fällen sind es 19 Stahlseile, nur an den beiden Pfeilern direkt an der Lippe jeweils 37, da der Abstand zwischen den beiden Trägern hier deutlich größer ist. Die Schlitten werden auf Teflonplatten über den sogenannten Verschubbalken gezogen. Und damit es besser gleitet, wird die Teflonbahn mittels Zahnspachtel mit einem speziellen Silikonfett bestrichen. So 40 bis 50 Eimer Fett, schätzt Neumann, werden bei dieser Aktion insgesamt verbraucht.
Ein von Laien nicht erwartetes Problem könnte der Wind sein. Der bläst in dieser Region meist von Westen und könnte so den Verschub mehr beschleunigen, als es den Ingenieuren lieb ist. Schließlich ist die Brücke, die da verrückt werden soll, schon fix und fertig – einschließlich der Stahlhohlkästen und gewaltiger Lärmschutzwände. Beide bieten eine enorme Angriffsfläche. Daher wurde von vornherein festgelegt, dass die ganze Aktion ab einer Windgeschwindigkeit von 50 km/h im wahrsten Sinne des Wortes abgeblasen wird. Doch auch unterhalb dieser Windgeschwindigkeit könnte das Fett auf den Teflonbahnen allzu segensreich sein. Daher gibt es an sechs Pfeilern Bremsen – also ebenfalls Hydraulikaggregate – die dagegenhalten. Ist ein wenig wie Tauziehen, wobei hier schon klar ist, wer gewinnt.
So spektakulär diese große Schiebung im Sauerland ist, viel sieht man mit bloßem Auge davon nicht. Gerade mal 3 Meter in der Stunde bewegt sich das Bauwerk. Eine Schnecke soll 4 Meter pro Stunde schaffen, weiß man bei Autobahn Westfalen. Gezogen werden kann theoretisch mit einer Kraft von 4.000 Kilonewton (kN), doch in der Realität reicht weniger als ein Drittel, um die Brücke wie geplant in Bewegung zu bringen.
Das A und O der gewaltigen Aktion ist,
dass das Ziehen absolut synchron verläuft.
Daher ist nach jedem Zugvorgang immer einige Minuten Pause. Michael Neumann hat rund 70 Leute im gesamten Brückenbereich verteilt, die über Funk jede noch so kleine Störung melden. Sie funken auch durch, wenn ihr Hydraulikzylinder in der Ausgangsposition und damit bereit fürs nächste Ziehen ist. Zur Kontrolle der gleichmäßigen Bewegung ist an jeder Achse ein Lasermesssystem eingerichtet. Zusätzlich überprüfen Vermesser kontinuierlich die Lage der Brücke. „Wir wollen schließlich keine Banane reinziehen“, erläutert Neumann gewohnt locker.
Nach gut sechs Stunden ist das 1.000-Meter-Ungetüm da, wo es hin soll. Ohne ein nennenswertes Problem. Doch bis der Verkehr rollen wird, dauert es noch einige Monate. Zunächst müssen die 15 Schlitten demontiert und das Bauwerk Pfeiler für Pfeiler auf die eigentlichen Lager abgesetzt werden. Auch die Anschlüsse im Bereich der Widerlager müssen noch hergestellt und die provisorischen Pfeiler „zurückgebaut“ werden. Wann ist die Brücke endgültig fertig? „Wenn sie abgerechnet ist“, antwortet Neumann. Doch das interessiert nur die beteiligten Bauunternehmen und die Autobahn GmbH, nicht jedoch den Autofahrer. Für ihn ist wichtig: Die Verkehrsfreigabe soll in diesem Sommer sein.