Willkommen an Bord. Nicht im blütenweißen Jackett mit Epauletten an den Schultern, sondern im dunkelblauen Pullover begrüßt Kapitän Wanke die überschaubare Gästegruppe. Kein Unterhaltungsprogramm oder Käptn´s Dinner, sondern der Seemannsalltag gibt auf der MS Translubeca den Dresscode vor. Auf den drei Ladedecks zurren die Deckmechaniker 40-Tonner, Pkw, Tieflader und andere Spezialfahrzeuge vor Auslaufen des Frachters fest, während wir uns auf 61 Mußestunden bis zum Ziel einstimmen. Endlich die Bücher von Weihnachten und vom letzten Geburtstag lesen, zwischendurch in die Sauna gehen, im Meerwasser-Außenpool baden (im Sommer) oder ein bisschen auf dem Fahrrad im Fitnessraum strampeln.
«Genießen Sie die Ruhe und die schönen Sonnenuntergänge», sagt der
57-jährige Kapitän,
den das Farbenspiel des Feuerballs auf dem Wasser auch nach 40 Jahren zur See noch immer fasziniert.
Während des Abendessens huschen die Lichter der Siedlungen an den Ufern der Trave an den Restaurantfenstern vorbei. Durch das enge Fahrwasser des Ostseezuflusses steuert ein Lotse die 157 Meter lange und 25 Meter breite MS Translubeca durch den regen Fährverkehr Richtung Südermole. An der Nordermole geht der russische Rudergänger von Bord. Wir werfen einen letzten Blick auf die hell beleuchtete Strandpromenade von Travemünde, bevor es aufs offene Meer und in die Dunkelheit geht.
Aus der Bar tönt inzwischen flotte Musik. Barkeeper Sascha legt auf. «Ich bin auf der Translubeca Mädchen für alles», sagt der 40-Jährige aus Puschkin, «vom Verkäufer im kleinsten Duty-free-Shop bis zum Seelentröster.» Als Schiffskoch hatte der Seebär mit seiner zupackenden und gutmütigen Art einst auf der Frachtfähre angeheuert, dem Rat seiner Großmutter folgend: «Junge, werde Koch», hatte die bes
orgte Babuschka gesagt, «da hast du es immer warm und wirst satt».
Bei ruhigem Seegang übernimmt vorwiegend der Autopilot das Steuer. Mit etwa 16 Knoten (Höchstgeschwindigkeit 20,3 Knoten; ein Knoten entspricht ca. 1,9 km/h)
nimmt die MS Translubeca zunächst Kurs auf Rügen, um am frühen Sonntagmorgen in Sassnitz nochmals Ladung aufzunehmen. Wolfgang Wanke überlässt die Brücke dann seinem ersten Offizier und steigt vom 35 Meter hohen Deck, «dem höchsten Deckstand einer Frachtfähre», wie er betont, hinunter auf Deck vier, dem Restaurant- und Bardeck. Redselig wird der sonst eher wortkarge Münsterländer, wenn er die Schifffahrt heute mit der vergleichsweise primitiven Navigation am Anfang seiner Kapitänslaufbahn beschreibt. Gleich nach der Mittelschule (inzwischen ist Abitur Bedingung) hat ihn die Seefahrt gelockt, «aus Neugier auf fremde Länder und Kulturen», erzählt Wanke mit leuchtend blauen Augen. Nachdem er über 20 Jahre die südlichen Gewässer erkundet hatte, zog es Wanke Richtung Ostsee. Seit 1997 ist er auf der Lübeck-Sassnitz-St.Petersburg-Strecke unterwegs. Bei Wind und Wetter, Schnee und Eis, denn die vier Schiffe der TransRussiaExpress-Linie lassen sich auch von dickeren Eisschichten nicht aufhalten. Der Kapitän macht samt Besatzung indessen nach dreiwöchigem Einsatz eine ebenso lange Pause.
Für die russischen Lastwagenfahrer sind die zwei Tage und drei Nächte auf dem Schiff Erholungspause. Danach geht der Wettlauf mit der Zeit weiter. Gennady Semenov etwa muss Früchte aus Südeuropa schnell zum Händler bringen. Anschließend geht es mit russischem Bier im Kühlanhänger zurück nach Italien. Während der Überfahrt hat man die nötige Muße, die ersten Sätze auf russisch zu lernen, denn nirgendwo kann man so gut abschalten wie auf hoher See. Würde nicht dreimal täglich eine schnarrende Stimme dreisprachig (deutsch, russisch, englisch) die Mahlzeiten über Lautsprecher ankündigen, man könnte Raum und Zeit vergessen. Kein Ton schrillt aus dem Handy und der Blick über die Weite des Meeres lockt mit zunehmender innerer Ruhe mehr als das Fernsehprogramm.
Am Dienstagmorgen bittet die Lautsprecherstimme ausnahmsweise nicht zum Essen, sondern zur Passkontrolle in die Bar. Zwei Grenzkontrolleure studieren Pässe und Visa mit eisiger Miene und bringen dabei die sonst behagliche Atmosphäre des Raumes zum Erstarren. An Land werfen drei ähnlich unterkühlte Offizierinnen nochmals ihre finsteren Blicke auf unsere Pässe, bevor sie Einlass in die Stadt gewähren. Erfrischend freundlich dagegen begrüßt uns die junge Stadtführerin Lena. Sie begleitet uns in ihre Heimatstadt, die nördlichste Millionenmetropole der Welt, die, gerade mal 306 Jahre alt, eine unvergleichlich bewegte Geschichte erlebt hat. «Aus nix geplant und aus dem Sumpf an der Mündung der Newa hochgezogen», erklärt Lena. Dafür hat Stadtgründer Zar Peter der Große seine Leibeigenen gnadenlos schuften lassen.
Von jeher war St. Petersburg eine Stadt der Gegensätze.
Schon im Zeitalter der Industrialisierung lebten die reichen Händler im Kaufmannsviertel Newskij Prospekt, während die Arbeiter in tristen Mietshäusern ein karges Dasein fristeten. Unzählige, trostlose Wohnblocks säumen die Straßen, die vom Hafengebiet Richtung Innenstadt führen. Trotz harter Arbeit muss die Mehrzahl der Bewohner mit umgerechnet 60 Euro im Monat auskommen. Dagegen sieht man auf der noblen Einkaufsmeile, dem Newskij Prospekt, viel Glanz und Glamour. Die teuersten Modelabels sind in den Schaufenstern dekoriert. Im Gostinnyj dwor findet ein wohlhabender Russe alles, was er zum Leben so braucht: Kaviar, Pelzmütze, edles Porzellan. Ein Stockwerk darüber bietet ein Souvenirladen hochwertiges, russisches Kunsthandwerk an. Ermüdet nach dem Bummel lockt ein belebender Espresso an die Bar des traditionellen Grand Hotels Europa. Die kleine Kaffeepause verschafft gleichzeitig einen Einblick in das älteste, mit diskretem Luxus bestechende Hotel der Stadt, und in den Kontrast der Lebenshaltung: Neun Euro steht auf der Rechnung. Bei der Fülle an kulturellen Schätzen bleibt zum Glück nicht viel Zeit zum Einkehren. Allein in der Eremitage, dem russischen Kunsttempel der Superlative mit 2,7 Millionen Exponaten, könnten wir unsere zwei Aufenthaltstage leicht verbringen. Doch auch in den Peterhof, den Peter der Große nach dem Vorbild des französischen Versailles am Ufer der Ostsee errichten ließ, wollen wir einen Blick werfen. Ein Muss ist darüber hinaus die Isaak-Kathedrale, die größte Kirche von St. Petersburg. Deren goldbetresste Kuppel gilt als Wahrzeichen der zweitgrößten russischen Metropole. 24.000 Baumstämme mussten die Arbeiter für den 300.000 t schweren Bau in den sumpfigen Boden rammen. Bestaunt man den Prunk im Innern, wird klar, woher das immense Gewicht des Sakralbaus rührt: 400 kg Gold, 1.000 t Bronze, 16 t Lapislazuli, um
nur einige der gewichtigen Materialien zu nennen.
Am zweiten Tag unseres St. Petersburg-Aufenthaltes machen wir einen Ausflug ins 30 Kilometer südlich gelegene Puschkin. Sascha freut sich, dass er uns am Vorabend an der inzwischen vertrauten Schiffsbar (Vollpension und Übernachtung kann man auch während der Liegezeit in St. Petersburg in Anspruch nehmen) von seiner Heimatstadt erzählen kann. Vor allem vom Bernsteinzimmer im bombastischen Katharinenpalast schwärmt er, von dem man seit einigen Jahren die Nachbildung bestaunen kann. Vollends zum Romantiker wird der Seebär, als er die einmalige Leuchtkraft schildert.
Den Kopf voller faszinierender Eindrücke geht es wieder an Bord. Wir legen ab Richtung Lübeck. 61 Stunden liegen vor uns, in denen wir unsere Erlebnisse Revue passieren lassen, endlich die mitgebrachten Bücher lesen und die schönen Sonnenuntergänge beobachten, die Kapitän Wanke heute noch genau so wie an seinem ersten Tag zur See beeindrucken.
Informationen
Finnlines Passagierdienst, Lübeck-Travemünde
Tel.: 04502 – 805-43
E-Mail: passagierdienst@finnlines.com
www.finnlines.com
Reiseführer mit Stadtplan für die Hosentasche:
Polyglott on tour St. Petersburg (8.95 Euro)