«Plus Vite, Monsieur!» Der Höllenritt vom Galibier


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Eigentlich ist das heute ja ein Tag, an dem man die Postkarte erfunden haben könnte. Strahlend blauer Himmel, majestätische Bergriesen mit schneebedeckten Gipfeln über saftigen grünen Wiesen. Sonnenschein pur, ein leichtes, sanft wehendes Lüftchen. Die schmale Straße windet sich in großzügigen Mäandern Meter für Meter hinauf. Die Savoyer Alpen im Südosten Frankreichs, nicht weit von der italienischen Grenze gelegen, laden an diesem Sommertag zum Verweilen ein. Wenn man denn Muße, Urlaub und Zeit hat, dieses Panorama zu genießen.

Tour 2008 Burkhart 008

Uns fehlt es eigentlich an allem davon. An Zeit, an Muße und an Urlaub sowieso. Drei deutsche Journalisten, unterwegs als Berichterstatter beim weltweit größten sportlichen Freiluft-Ereignis, der Tour de France. Drei Wochen quer durch Frankreich, vom Atlantik durch die Auvergne, das Massif Central, die Pyrenäen, später dann die «Alpes Maritimes», bis es wieder nach Norden Richtung Paris geht. Wenn man Abend für Abend nach der täglichen Etappe zwischen Pressezentrum und Hotel hin- und her pendelt, dann ist man ziemlich genervt. Denn 3.500 Kilometer Auto fahren im Tross der Tour, auch wenn das Gefährt noch so komfortabel ist, sind nun mal keine Urlaubsreise.

2.500 Media-Leute sind bei dem dreiwöchigen Ereignis in Frankreich akkreditiert. Von Fernseh-, Rundfunk- und schreibenden Journalisten über die vielen Fotografen bis hin zu den Mitarbeitern der technischen Service-Crews, ohne die nichts geht. Sie alle müssen natürlich mobil sein, um möglichst hautnah von den täglichen Ereignissen, aber auch von Hintergrund-Geschehnissen berichten zu können. Wir drei sind ein eingespieltes Team, seit Jahren schon dabei und wir haben das Glück, ein Presse-Fahrzeug der sogenannten «Hors-Catégorie» bewegen zu dürfen. Unser grünes &laquoBapperl&raquo an der Windschutzscheibe signalisiert den Gendarmen, die das Feld auf ihren Krädern begleiten, aber auch ihren Kolleginnen und Kollegen am Streckenrand, dass wir «rein und raus» dürfen. Das heißt, wir können uns auch einmal zwischen Ausreißergruppe und Hauptfeld legen, wenn das vom Zeitabstand her möglich ist. Und: Wenn wir uns das zutrauen, denn

Autofahren mitten im Tour-Tross ist nichts für schwache Nerven.

Vor allen Dingen an diesem Tag nicht, der eigentlich so idyllisch erscheint, als könne ihn kein Wässerchen trüben. Über den Col de Lauteret ging es heute von Briançon aus, noch warten der 2.700 Meter hohe Galibier und das Ziel in L’Alpe d’Huez auf uns. Wir sind dem Peloton ein Stück voraus gefahren, warten jetzt am Gipfel des Galibier, weil unser fotografierender Kollege dort die besten Möglichkeiten hat, Bilder «am Puls des Fahrers» zu schießen. Vier Fahrer sind ausgerissen, haben einen Vorsprung von etwa drei Minuten vor dem Hauptfeld. Das Auto haben wir so unmittelbar am Straßenrand geparkt, dass wir sofort nach den vier «Echapées», wie die Ausreißergruppe im Französischen heißt, auf die Straße können.

Tour 2008 Burkhart 011

Ausreißer bedeutet natürlich nicht nur die vier Radprofis. Dazu gehören ungefähr acht bis zehn der insgesamt 40 «Motos», der blauen Kräder also. Dazu Materialwagen der Teams, die in der Ausreißergruppe vertreten sind, Fotografen, Kamera-Motorräder und Offizielle der Tour-Direktion. Dahinter reihen wir uns kurz unter dem Gipfel ein. Mit drei Kollegen teilen wir uns das Fahren und das Navigieren auf den Beifahrer-Plätzen in unserem Ford Mondeo Turnier. Heute habe ich «Fahrdienst» und da wir die Tour schon seit vielen Jahren begleiten, weiß ich, was beim «Abstieg» vom Galibier in unserem Fahrzeug auf uns zukommt.

Aus den vier «Männlein», die sich den Bergriesen hinaufgequält haben, wird bei der Abfahrt eine rasende Meute, die jeden Zentimeter Straße schneidet, ein irres Tempo hinlegt, sich wagemutig in Spitzkehren legt, sodass man meint, die «Rouleurs» hätten bei Tempo 80 bis 90 Bodenkontakt mit der blanken Haut. Die ultraleichten Rennräder werden quasi zu fliegenden Geschossen, über 20 bis 25 Kilometer hinunter nach Villar d’Arêne, bis wir im Tal der Romanche sind. Uns bleibt nichts anderes übrig, als in unserem voll bepackten Kombi ebenfalls den gewaltigen Alpenriesen hinunterzurasen.

Das heißt: Maximales Gaspedal über 100 oder 150 Meter, dann Vollbremsung und 180-Grad-Kurve.

Und das Ganze noch mal und noch mal. Immer wieder. Vollgas, bremsen, Reifen quietschen. Unser Gepäck haben wir an diesem Tag besonders gut gesichert, die beiden Kollegen im Auto halten sich nur mit der Hand an den Seitenschlaufen fest. Konversation findet zu diesem Zeitpunkt nicht statt. Kann sie gar nicht, weil der Fahrer auf «Deubel komm raus» den Berg hinunter hetzen muss. Dazu neben dran hupende «Motos» mit wild gestikulierenden Gendarmen, die uns antreiben: «Plus vite, plus vite.» Also noch schneller, aber wie.

Nach fünf Minuten bin ich schweißgebadet, bete inständig, dass unsere Bremsen diese Tortur mitmachen. Leitplanken kennt man keine auf den kleinen Sträßchen der «Alpes Maritimes», wir wissen zwar, dass es an der Seite ein paar hundert Meter runter Richtung Abgrund geht. Indes: Man muss den «Status quo» verdrängen und sich nur auf eines völlig konzentrieren. Auf diese irrsinnige Fahrweise. Zumal von hinten jetzt auch noch das Peloton drängt, versucht, die Ausreißer auf der rasenden Abfahrt mit den ständigen Richtungsänderungen zu stellen. Das heißt, dass der eine oder andere Materialwagen mit einem tollwütigen Fahrer am Lenkrad auch noch laut hupend versucht, sich wie wild an uns vorbei zu quetschen.

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Unser Gepäck hat sich inzwischen hinten ziemlich selbstständig gemacht, da hilft alle Verzurrerei nichts mehr. Tüten und Taschen fliegen durch die Gegend, die großen Koffer Gott sei Dank nicht. Allmählich wird das Gelände etwas flacher, die Straßen ein wenig breiter, doch wir rasen mit unverminderter Geschwindigkeit zu Tal. «Bei der nächsten Gelegenheit», so schwöre ich mir, «bist Du rechts raus und lässt alles vorbei.» Immerhin kommen hinten noch so ungefähr 150 bis 160 Radprofis und circa 30 Motorräder und 40 Kombis mit Fahrrädern obendrauf. Und alle natürlich mit einem Affenzahn.

Nach etwa 20 Minuten ist der Spuk, die wilde Hatz, vorbei. Wir haben das Tal der Romanche erreicht, sind in der Ebene. Der erste Parkplatz gehört uns. Nix wie raus.

Als wir aussteigen, zittern die Beine,

die Gesichtsfarbe dürfte sich ein wenig Richtung «ziemlich bleich» verändert haben und die Hände sind klatschnass. Unsere Bremsen stinken, was das Zeug hält, und die Kollegen hinten schütteln nur den Kopf. Dann rauscht das Feld an uns vorbei. Irgendwie doch schön, so ein idyllischer Tag in den französischen Alpen!

CD Cover Henning Wolter

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