Kurz hinter Venlo auf der A 61 Richtung Mönchengladbach war es dann soweit. Der Fahrer des niederländischen Sattelzuges hatte nur kurz scharf auf die Bremse getippt, weil vor ihm der Verkehr plötzlich stockte. Und schon verselbständigten sich seine hoch gestapelten Aluminiumplatten und segelten mit einem metallischen Kreischen in alle Richtungen davon. Schließlich lagen sie weit aufgefächert vom Anhänger bis zur Fahrzeugkabine quer über das Zugfahrzeug und die Deichsel verstreut. Glück im Unglück, wenigstens kamen keine Personen zu Schaden.
Dabei ist die Ursache des Desasters offensichtlich: falsche Ladungssicherung.
Denn die losen Bleche wären besser in einer ausreichenden Zahl von Ladegestellen untergebracht gewesen, die im optimalen Fall eine formschlüssige Sicherung zu allen Seiten hin gewährleistet hätten und beispielsweise mit Niederzurrungen abschließend mit dem Fahrzeug sicher verbunden worden wären.
Wäre, hätte, könnte: Viele Tipps und Ratschläge kommen bei den Profis der Landstraße einfach nicht an. Manchmal fehlt das Wissen oder die geeigneten Hilfsmittel zur Ladungssicherung. Und immer drängt die Zeit. Uwe-Peter Schieder vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft GDV schätzt, dass aktuell in der Bundesrepublik gut 70 Prozent aller Ladungen, die einer Sicherung bedürfen, nicht oder vollkommen falsch gesichert sind: «Immer noch passieren ca. 2.500 Unfälle allein wegen schlechter oder nicht vorhandener Ladungssicherung und immer noch werden Menschen durch Ladung verletzt oder getötet.»
Dabei engagiert sich der GDV seit 14 Jahren erfolgreich für das Thema. Er brachte schon 1997 ein praxisnahes Handbuch heraus, das Licht in das Dunkel um die physikalischen Zusammenhänge rund um die Ladungssicherung brachte. Inzwischen ist eine ganze Schulungsindustrie entstanden, welche die komplexen Zusammenhänge am Lkw vermittelt.
Doch ist die Bilanz von Schieder ernüchternd: «Der Zustand der Ladungssicherung hat sich statistisch kaum verändert. Der Ausbildungsstand des Gros der Fahrer und Verlader ist Null oder nahe Null. Häufig finden sich zwar Gurte auf den Fahrzeugen, die gegebenenfalls auch eingesetzt wurden, aber häufig nur als Niederzurrung, die eine gute Sicherung gegen Wegfliegen nach oben ist, aber sonst ihre Wirkung verfehlt.»
Noch viel zu häufig hört Schieder bei Lkw-Kontrollen den Ausspruch:
«Das ist ja so schwer, das kann sich gar nicht bewegen.»
Dabei fährt auch Ladung mit Tempo 80 über die Straßen und mit 20 Stundenkilometern in die Kurve. Der Lkw hat Gummireifen, aber die Ladung steht unter Umständen barfuß auf der glatten Ladefläche und weiß nicht, dass sie bremsen oder um die Ecke fahren soll. Also muss sie gesichert werden. Doch mangelnde Ladungssicherung ist nicht der einzige Risikofaktor:
Auch Übermüdung und Ablenkung gelten als Ursachen für schwere Lkw-Unfälle.
So lautet zumindest das Ergebnis einer dreimonatigen bundesweiten Datenerhebung, die in den Monaten Juli bis September 2003 in Zusammenarbeit mit der Autobahnpolizei Köln durchgeführt wurde und verhaltensbezogene Ursachen schwerer Lkw-Unfälle auf Bundesautobahnen untersuchte. In dem Zeitraum wurden insgesamt 219 Unfälle registriert, die die definierten Einschlusskriterien erfüllten. Dabei stellte Diplom-Psychologin Claudia Evers der Bundesanstalt für Straßenwesen (BaSt) abschließend fest, dass sich «Übermüdung» nach «Geschwindigkeit» als zweithäufigste Unfallursache herauskristallisierte: «19 Prozent aller Fälle».
Die Studienergebnisse belegen weiterhin den Zusammenhang zwischen Tageszeit und müdigkeitsbedingten Unfällen. Von den Nachtunfällen wurden etwa 42 Prozent, von den Unfällen zwischen 14 und 17 Uhr elf Prozent ursächlich auf Übermüdung zurückgeführt. Schließlich sind Übermüdungsunfälle überdurchschnittlich häufig durch ein Abkommen von der Fahrbahn im Sinne nicht rechtzeitig ausgeführter Lenkbewegungen gekennzeichnet. Für die Hälfte der registrierten Unfälle konnte die Polizei Einschätzungen des Aufmerksamkeitsstatus des Hauptverursachers vornehmen. Demnach wurde rund jeder siebte Hauptverursacher als «abgelenkt» oder «in Gedanken gewesen» eingestuft. Evers: «Werden der Aufmerksamkeitsstatus und die Unfallursachen gemeinsam herangezogen, so steht etwa ein Drittel (32 Prozent) der untersuchten Unfälle mit Müdigkeit beziehungsweise Unaufmerksamkeit am Steuer in Zusammenhang.»
Aufgrund des demografischen Wandels, der Zunahme des Güterverkehrs und eines Mangels an jungen Nachwuchsfahrern ist zusätzlich mit einer steigenden Anzahl älterer Lkw-Fahrer zu rechnen. Das zieht nach Erkenntnissen von Dr. Wolfgang Fastenmeier vom Mensch-Verkehr-Umwelt, Institut für Angewandte Psychologie in München, spezifische Probleme nach sich, denn es lässt sich aus verschiedensten Quellen ein recht stimmiges Gesamtbild der Unfallsituation sowie typischer Problemlagen verschiedener Altersgruppen im Güterverkehr zeichnen: «Das Unfallrisiko der älteren Lkw-Fahrer erhöht sich, wobei der Anstieg allerdings erst ab dem 65. Lebensjahr markant ist.»
Aufschlussreicher wird das Bild bei einer Differenzierung nach Unfallarten beziehungsweise -ursachen. Auch hier gibt es eine klare Analogie zur Unfallsituation im Autoverkehr allgemein: Ältere Lkw-Fahrer fallen vermehrt in «komplexen Anforderungssituationen» auf. Dies sind vor allem Fahraufgaben in Knotenpunkten, bei deren Be-wältigung Informationen aus verschiedenen Richtungen aufgenommen, zu einem stimmigen Gesamtbild der Situation zusammengesetzt und schnell in Fahrhandlungen umgesetzt werden müssen.
Weniger Probleme haben die älteren Fahrer im kreuzungsfreien Längsverkehr; so verhalten sie sich bezüglich der Abstands- und Geschwindigkeitswahl sehr vorsichtig und kompensieren damit erfolgreich ihre langsamere Reaktionsfähigkeit. Umso bedeutsamer ist das vollständige Umkippen dieses Befundes bei Dunkelheit: Hier fahren ältere Lkw-Fahrer mit nicht angepasster Geschwindigkeit und zu dicht auf.
Fastenmeier vermutet, dass ältere Lkw-Fahrer nicht mehr in der Lage sind, Abstände und Geschwindigkeiten in der Nacht korrekt einzuschätzen. Im Gegensatz zur Situation im Pkw – Nachtunfälle von Senioren sind dort die Ausnahme – können die Lkw-Fahrer offenbar aufgrund ihrer Arbeitssituation potenzielle optische Leistungsverschlechterungen nicht auf der strategischen Ebene der Fahraufgabe ausgleichen und stattdessen vermehrt unter Tageslichtbedingungen fahren. Sollte die angedachte strategische Nutzung der Lkw-Maut zusätzlich zu einer Verlagerung des Güterverkehrs in die Abend- und Nachtstunden kommen, würde sich das Bild sicher noch verschärfen.
Doch belegen Zahlen im Bereich Lkw-Unfälle teilweise auch positive Trends. So ist, obwohl die Verkehrsdichte und das Transportaufkommen erheblich zugenommen haben, in den letzten 15 Jahren die Zahl der Getöteten und Schwerverletzten bei Lkw-Unfällen bereits um über 60 Prozent zurückgegangen. Dennoch ereignen sich immer noch schwere Unfälle durch das Auffahren von Lkw auf andere Fahrzeuge oder durch Abkommen von der Fahrbahn.
2007 wurden der Berufsgenossenschaft für Fahrzeughaltung BGF 60.840 Arbeits- und Wegeunfälle gemeldet, davon 5.835 im Straßenverkehr. 149 Unfälle verliefen tödlich, davon 78 im Straßenverkehr. Bei den tödlichen Arbeitsunfällen des Jahres 2006 dominieren die Unfälle im Straßenverkehr und bei diesen die Kategorien «Abkommen von der Fahrbahn» und «Zusammenstoß mit anderem Fahrzeug». Auch bei den schweren Unfällen sind diese beiden Kategorien überproportional vertreten. Nach neuesten Untersuchungen könnten rund ein Drittel dieser Unfälle durch den konsequenten Einsatz von Fahrer-Assistenz-Systemen verhindert werden.
Daher ist es nur folgerichtig, dass auf Initiative der BGF die Partner Bundesverband Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung BGL und Kravag-Versicherungen die Kampagne «Sicher. Für dich. Für mich» durchführen. Unterstützt werden sie dabei von den Fahrzeugherstellern Iveco, MAN und Mercedes-Benz. Die Kampagne fördert unter anderem die Ausstattung von neuen schweren Nutzfahrzeugen und Reisebussen mit elektronischen Fahrerassistenzsystemen. Dabei regelt ein Abstandstempomat automatisch die Distanz zum vorausfahrenden Fahrzeug. Ein Spurassistent warnt den Fahrer, wenn er im Begriff ist, seine Fahrspur unbeabsichtigt zu verlassen. Ein Stabilitätsprogramm (ESP), schließlich, greift regelnd ein, wenn im Rahmen der Fahrphysik die Stabilität des Fahrzeugs erheblich gefährdet ist.
Doch wird die Technik alleine die Probleme nicht lösen, als Maßnahmen sind etwa Weiterbildungs- und Trainingsangebote an die Fahrer zu Themen wie allgemeine Gefährdungseinschätzung inklusive Ladungssicherung oder Lenk-Ruhezeiten wünschenswert.
Die Unternehmen müssen sensibilisiert werden in Bezug auf die Verbesserung von Logistik, Disposition, Routenplanung oder Arbeits- und Gesundheitsschutz.
Schließlich sind verstärkte Kontrollen im Verkehr hinsichtlich ihrer praktischen Umsetzung unrealistisch und treffen vornehmlich die Fahrer als schwächste Glieder der Transportkette.
Trotzdem hätte in dem eingangs geschilderten Fall der Unglückspilot sicher nichts gegen eine Aufklärung im Vorfeld des Desasters gehabt. Aber vielleicht hätte ihm auch die Phantasie gefehlt, um zu erkennen, mit welcher Art von Zeitbombe er in der Gegend herumfuhr.