Manchmal liest er am Tag ein ganzes Buch. „Dann wieder komme ich über eine Seite nicht hinaus.“ Pater Wolfram Hoyer hat so seine Erfahrungen. Viel Zeit zum Schmökern ist von Januar bis März und dann wieder im Oktober und November. Dann hält sich der Geistliche in der Autobahnkirche Adelsried an der A8 Stuttgart-München auf. Er ist an seiner Tracht zu erkennen. Aber er bleibt ganz bewusst im Hintergrund. Im Sommer sitzt er am liebsten draußen auf einer Bank an einem Brunnen neben dem Rosenbusch. „Die Menschen kommen, weil sie in erster Linie Ruhe und Zeit zur Besinnung suchen. Es ist eine Entschleunigung von der Hektik der Autobahn.“
Es erscheinen hauptsächlich Männer, ganz im Gegensatz zu den Besucherinnen der üblichen Kirchen. Der 45-jährige Pater kennt den Grund: „Es sind einfach mehr von ihnen auf der Reise.“ Ein Anliegenbuch zeugt von den Problemen, welche die Menschen umtreiben. Von Schicksalsschlägen ist die Rede, aber auch von Dankbarkeit, dass Gott in schwierigen Lebenssituationen weiter geholfen hat. Sind die Krisen noch nicht bewältigt, kommt Hoyer ins Spiel. Er bietet sich als Gesprächspartner an – wenn der Platz zu öffentlich ist, auch bei ihm zu Hause. Der Pater ist promoviert und war Inhaber einer Professur in Rom. 2006 überwog aber der Wunsch nach mehr Kontakt zu den Menschen. Hoyer hat sich ganz bewusst für die Autobahnkirche entschieden: „Es kommen keine Babys und keine Hochbetagten, aber sonst ein breiter Durchschnitt durch die ganze Gesellschaft, auch alle Religionen.“ In Adelsried ist Messe sonntags immer um acht, zehn und um 18 Uhr. Hoyer schätzt, dass ungefähr die Hälfte seiner Klientel aus der näheren Umgebung stammt. 50 Prozent kommen von der Autobahn.
Die Kirche liegt zwischen der Anschlussstelle Zusmarshausen und dem Kreuz Augsburg-West, Ausfahrt Adelsried. Seit 1958 dient sie Menschen, die unterwegs sind. Gestiftet hat sie ein Papierfabrikant nach einem Verkehrsunfall mit tödlichem Ausgang in der Familie. Die Kirche „Maria Schutz der Reisenden“ ist die älteste Autobahnkirche in Deutschland. Laut Stiftungsvertrag genießt sie eine begrenzte verwaltungsmäßige Autonomie und muss sich finanziell selbst tragen. Erhalten und gepflegt werden der Bau und die Anlagen durch die Spenden der Besucher.
In Deutschland existieren inzwischen 41 Autobahnkirchen und -kapellen. Besucherzahl: rund eine Million Menschen jährlich. Viele stiften in den Gotteshäusern eine Kerze. Aus dem Verbrauch lässt sich die Statistik hochrechnen. Zwei von fünf Besuchern sind kirchlich und kirchengemeindlich distanzierte Personen. Das ergab 2007 eine Studie der Akademie der Versicherer im Raum der Kirchen mit Sitz in Kassel, die seit Anfang der 1980er-Jahre strukturell den Ausbau des Autobahnkirchennetzes koordiniert und unterstützt. Das Angebot der Autobahnkirchen wird offensichtlich angenommen. Das Konzept der stillen Einkehr geht auf.