Münster ist Deutschlands heimliche und manchmal auch unheimliche Fahrrad-Hauptstadt. Es gibt deutlich mehr „Leezen“, wie das Zweirad hier liebevoll heißt, als Einwohner. Entsprechend zahlreich sind die Konflikte zwischen Kraftfahrern und Pedalrittern. Gerade Auswärtige tun sich schwer, denn die Leezen sind schier überall. Was auch dazu führt, dass die vermeintlich schwächeren Verkehrsteilnehmer in ihrer Menge zu den vermeintlich stärkeren mutieren und durchaus mal auf die eine oder andere Verkehrsregel pfeifen.
Besonders der tote Winkel beim Rechtsabbiegen von Lkw wird vielfach unterschätzt. Fatal, wenn der Radfahrer geradeaus weiterfahren möchte! So wie vor zwei Jahren für den zwölfjährigen Schüler, an den jetzt noch – wenige Meter von dem neuartigen Spiegel entfernt – ein Kreuz, Kerzen und frische Blumen erinnern. Grund auch für das Planungsamt der Stadt Münster, genau hier mit dem Pilotprojekt zu starten. Die Mersmannsstiege erschließt ein Industriegebiet mit starkem Lkw-Verkehr und mündet auf die vielbefahrene Bundesstraße 51, die direkt zur Autobahn A43 führt.
Unmittelbar unter dem Grünlicht der Ampel ist der konvexe Spiegel montiert. Das hat den großen Vorteil, dass er im ständigen Blickwinkel des Lkw-Fahrers ist, der ja auf „Grün“ lauert. „Der Spiegel ist das letzte Signal, dass sich irgendwas vor oder neben dem Fahrzeug befindet“, erläutert Verkehrsplaner Andreas Pott von der Stadt Münster. Gleichwohl: „Er ist keine Garantie, dass sich nicht irgendwann wieder ein Unfall ereignet“, so Pott.
Die Position unter der Ampel ist das große Plus gegenüber anderen Spiegeln, die der Autofahrer „irgendwo im Verkehrsraum suchen muss“. Freiburg hat solche Trixi-Spiegel – vom Erfinder nach seiner Tochter Beatrix benannt, die bei einem Abbiegeunfall schwer verletzt worden war – bereits vor Jahren an mehr als hundert Stellen installiert. Schon das brachte eine signifikante Verbesserung der Verkehrssicherheit, wie auch eine Untersuchung der Technischen Universität Kaiserslautern belegte.
Den jetzt in Münster eingesetzten Spiegel haben die städtischen Verkehrsplaner übrigens durch Zufall auf der Rückfahrt von einer Fachmesse in Amsterdam entdeckt – und gleich sein Potential gegen den toten Winkel erkannt. Auch in Amsterdam kam man zu dem Ergebnis, dass durch die Spiegel die Konflikte zwischen Lkw und Fahrrädern abgenommen haben. In Münster werden die beiden Spiegel zunächst ein Jahr von den Verkehrsplanern genau beobachtet – unter anderem durch die Unfallstatistik. Doch das allein reicht nicht, denn für wirklich aussagekräftige Zahlen ist ein Zeitraum von mindestens zwei bis drei Jahren nötig. Daher wird parallel eine unabhängige Erfolgskontrolle durch eine Hochschule durchgeführt. Wie das genau passieren soll, wird derzeit erarbeitet. Denkbar ist, dass neben einer Befragung auch ein Simulator zum Einsatz kommt.
Ganz billig ist der Dodehoekspiegel, wie er im Niederländischen heißt, leider nicht: 750 Euro pro Exemplar, inklusive Montage. Seine Halterung passt exakt in die Aussparungen eines Ampellichts, das europaweit genormt ist. Damit sich die Radfahrer nicht am Spiegel stoßen, müssen die bisherigen Ampellichter jeweils um eine Position nach oben wandern. Den rund 200 Euro teuren Trixispiegel kann man dagegen mit einfachen Stahlbändern an beliebigen Masten montieren. Doch wenn durch die Investition auch nur ein schwerer Abbiegeunfall vermieden wird, haben sich selbst die 750 Euro mehr als gelohnt.
Unter Münsters Lkw-Fahrern sowie den Zulieferern im angrenzenden Industriegebiet hat sich der „Toter-Winkel-Spiegel“ sehr schnell herumgesprochen und findet eine hohe Akzeptanz. Beim ersten Warten vor der roten Ampel ist es noch ungewohnt, doch schon beim zweiten Passieren der Stelle möchte man ihn nicht mehr missen, wie unser mehrfaches Befahren mit einem Wohnmobil ergab – und das hat einen deutlich kleineren toten Winkel als ein Lkw. Das Beobachten der fahrzeugeigenen Spiegel wird da fast überflüssig.
Münster hat noch an anderer Stelle den Kampf gegen das Übersehen von Radfahrern aufgenommen. Zunächst in einer Auflage von 3.500 Exemplaren wurden knapp DIN-A4-große Aufkleber gedruckt, auf denen ein Radfahrer hinter dem Lkw stehen bleibt, statt rechts daneben auf „Grün“ zu warten. „Sicher fahre ich nur dahinter“, erläutert eine Sprechblase. Lkw-Fahrer, die ihn ans Heck ihres Trucks geklebt haben, berichten von einem Bewusstseinswandel der Zweiradler: „Sie merken, dass die Radfahrer nachdenken, was sie da tun“, erzählt Pott. Und so ziert der Aufkleber jetzt auch das Wohnmobil-Heck unseres KÜSmagazin-Mitarbeiters.