«Vision Zero» – Zukunftsmusik oder realistische Vorgabe?


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Was bedeutet eigentlich Verkehrssicherheit auf unseren Straßen? Bedeutet es, die Anzahl der Unfälle, und der daraus resultierenden Verletzten und Toten, auf ein Mindestmaß zu reduzieren? Bedeutet Verkehrssicherheit nicht auch, eine Infrastruktur zu schaffen, in der auf die Bedürfnisse der Gemeinschaft genauso wie die jedes einzelnen Bürgers dermaßen eingegangen wird, dass eine möglichst gefahrlose Mobilität entsteht? Fragen, auf die es Antworten gab, beim Seminar des Deutschen Verkehrssicherheitsrates unter dem Motto «Verkehrssicherheit 2020».

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Es ist ein hehres Ziel, das sich die Europäische Union da gesetzt hat. Deren «Leitlinien der Verkehrspolitik» nämlich beinhalten, dass sich die Anzahl der Verkehrstoten von 2011 bis 2020 halbieren soll. Nun ist Papier zwar geduldig, und alle Theorie ist bekanntlich grau. Doch das wiederum soll nicht heißen, dass sich nicht kluge Köpfe den Kopf darüber zerbrochen hätten, wie solches zu bewerkstelligen sei. Und – das wurde bei diesem Seminar des DVR wieder einmal deutlich anhand einer langen Liste namhafter Referenten – beim «Köpfezerbrechen» ist es nicht geblieben.

An erster Stelle der Verwirklichung dieses Ziels steht die Ursachenforschung.

Welches sind die häufigsten Ursachen? Wo muss wer, wann und wie ansetzen, um dem Übel auf den Grund zu gehen? Häufigste Quelle allen Leids ist – wen wundert’s – immer noch die unangepasste Geschwindigkeit, wie es im Polizeijargon heißt. Auch das Thema «Alkohol am Steuer» taucht als eine der häufigsten Unfallursachen auf, wenn wieder einmal darüber debattiert wird, welche Präventiv-Maßnahmen zu ergreifen sind.

Doch schon heute, das war das Ergebnis des zweitägigen Seminars, gibt es genügend zukunftsweisende Erkenntnisse in den Bereichen Infrastruktur-Verbesserungen, Verkehrstechnik, Verkehrskontrolle und Verkehrspsychologie. Wie also können wir es in Deutschland der sogenannten «Vision Zero», also der «Nulllösung» bei den Verkehrstoten, ein bedeutendes Stück näher kommen? In Zahlen ausgedrückt, soll das heißen, dass es in neun Jahren in Deutschland nur noch etwa 2.000 Verkehrstote p. a. geben wird. Es ist jedoch nicht so, dass die aktuelle (traurige) Zahl seit Jahren stagniert. In den vergangenen 35 Jahren ist die Zahl der Unfalltoten im Verkehr um rund 80 Prozent gesunken. Dafür, das betonten alle Redner/innen der beiden DVR-Tage, seien in erster Linie drei Komponenten ausschlaggebend: Die Automobilindustrie baue immer bessere Autos, beim Straßenbau würden seit Jahren immer mehr Sicherheitskriterien berücksichtigt und auch die medizinische Unfall-Nachsorge mache immer größere Fortschritte.

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Professor Ralf Risser, Universität Wien

Die Technologien der Verkehrsüberwachung werden auf diesem Weg immer erfinderischer und raffinierter. Die Wissenschaft wird in zunehmendem Maße für Verkehrssicherheit und Verkehrsüberwachung eingesetzt. So schilderte beispielsweise der leitende Polizei-Direktor imNRW-Innenministerium, Wolfgang Blindenbacher, die Wirkungsweise einer neuen Infrarotkamera, die bei Lastwagen im Vorbeifahren die Bremsbeläge überprüft. Egal, bei welcher Geschwindigkeit, die Kamera ist unbestechlich. Ist ein «Brummi»-Pilot also mit mangelhaften Bremsbelägen unterwegs, wird er ein paar Kilometer weiter aus dem Verkehr gezogen. Das Gleiche gilt auch für Fahrer, deren Lkw mit «Schlappen» unterwegs sind, deren Profil die Bezeichnung schon nicht mehr verdient. Also: raus damit aus dem Straßenverkehr.

Der Technik sind verhältnismäßig wenige Grenzen gesetzt auf dem Weg, Gutes im Sinne der Verkehrssicherheit zu tun. Der «Pupillomat» beispielsweise erkennt, wann der Fahrer nahe am Sekundenschlaf ist und lässt diesen mit einem schrillen Warnton wieder aufschrecken. 20 Prozent aller Lkw-Unfälle, das wurde bei dem Kasseler Seminar deutlich, seien nämlich auf Übermüdung zurückzuführen.

Doch schon bei Konzeption und Bau von Straßen und Fernwegenetzen, soll darauf geachtet werden, dass die Straße den Fahrer/ die Fahrerin dazu «zwingt», vorsichtiger zu sein. Professor Dr. Bernhard Schlag von der Technischen Universität Dresden, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Bundesverkehrsministeriums, sprach von der «selbsterklärenden Straße.» Das bedeutet, dass die Straße in Zukunft so gestaltet sein müsse, dass sie den Fahrer aufgrund ihrer Bauweise dazu zwingt, vorsichtig zu sein und die Geschwindigkeit zu drosseln. Dies, so Schlag, betreffe vor allem Land- und innerörtliche Straßen, wo zwei Drittel aller Verkehrstoten registriert würden. Zu dieser «selbsterklärenden Straße» zählten Kreisverkehre und Mittelinseln. Es sei davon auszugehen, prognostizierte der Experte, dass Kreisverkehre und Mittelinseln sogar auf Durchgangsstraßen auf dem flachen Land erheblich zunähmen.

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Wolfgang Blindenbacher, leitender Polizei- Direktor im NRW-Innenministerium

Ute Hammer, die Geschäftsführerin des DVR, kam bei ihrem Lösungsansatz zur angestrebten «Version Zero» zu folgender Schlussfolgerung: «Wo der Verkehr immer dichter wird, muss die Verkehrswelt so variiert werden, dass menschliche Fehler ausgeglichen, besser noch vermieden werden.» Was in etwa der «selbsterklärenden Straße» von TU-Professor Schlag gleich oder doch zumindest nahe kommt. Die Verkehrswelt, so Hammer, solle derart gestaltet werden, dass «der Fehlerhaftigkeit des Menschen und seinen physikalischen Grenzen Rechnung getragen wird.» 90 Prozent der Verkehrsunfälle hätten menschliches Versagen zur Ursache.

Größtmögliche Sicherheit erfordert aber auch in vielen Bereichen einen Eingriff in die Privatsphäre, auch in die Entscheidungsfreiheit des Fahrzeuglenkers durch automatische Warn- und Eingreifsysteme.

Hierbei war die Toleranzgrenze vieler Autofahrer/innen immer sehr niedrig gewesen. Dennoch, so Hammer, müssten Selbstverständnisse infrage gestellt werden, um Veränderungen herbeizuführen. Etwa bei der Problematik des Alkohols am Steuer. Dort habe sich die Toleranzgrenze bereits verschoben: Es gelte mittlerweile nicht mehr als Kavaliersdelikt, sich nach ein paar gezischten Pils noch hinters Lenkrad zu setzen.

Thematisiert wurde auch die Frage, ob es zur persönlichen Freiheit eines jeden Autofahrers/-fahrerin gehöre, die Geschwindigkeit dem eigenen Lustgefühl anzupassen. Auch wenn keine Verkehrszeichen das Tempo optisch eingrenzen. Steigendes Tempo beinhaltet gleichzeitig längere Bremswege und dadurch zusätzliche Risiken für alle Unfallbeteiligten. Sogar das Thema «Angurten», das aufgrund des gesunden Menschenverstands auch im innerörtlichen Verkehr eigentlich keines mehr sein dürfte, gehört dazu. In Rheinland-Pfalz beispielsweise war im vergangenen Jahr jeder zweite Verkehrstote nicht angegurtet. Da stellt sich dann die Frage nach Sinn und Zweck des lebensrettenden Instrumentes wohl nicht mehr.

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Es hat also nichts mit «Big Brother is watching you» aus Orwells Zukunftsroman «1984» zu tun, wenn der Einzelne bestimmte persönliche Freiheiten einschränken muss. Nicht aufgeben, nur ein wenig einschränken im Sinne größerer Überlebenschancen und der Wahrscheinlichkeit, unverletzt und unbeschadet aus einem Unfall herauszukommen. Dies sind auch keine Anzeichen eines totalitären Überwachungsstaates, wie vor-eilige Kritiker meinen. «Würden sich immer alle an die Tempolimits halten, dann sänke die Opferzahl im Straßenverkehr um ein Drittel», dokumentierte Professor Ralf Risser von der Universität Wien.

Auch auf die Besonderheiten älterer Verkehrsteilnehmer müsse eingegangen werden. Der «demografische Wandel» führe zwangsläufig auch zu einer stärkeren Überalterung aller am aktiven Straßenverkehr beteiligten Personen, sagte Dr. Reinhold Baier vom Büro für Stadt- und Verkehrsplanung in Aachen. «Relativ gesehen wird der Anteil von Fußgängern gegenüber dem motorisierten Verkehr ansteigen.» Schon heute stellten ungeschützte Verkehrsteilnehmer 35 Prozent des Straßenverkehrs, machten aber 57 Prozent der im Straßenverkehr Getöteten und Verletzten aus. Deshalb fordert der Verkehrsplaner, künftig auch Stadtstraßen auf ihre Sicherheitslage hin zu überprüfen.

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